Zeitenwende: vom Leben nach der blista

Das Jurastudium in Marburg - aus dem Leben eines blinden Paragraphenreiters

Hendrik Lonnemann. Als ich nach sieben Jahren an der Carl-Strehl-Schule 2011 mein Abitur machte, hatte ich schon seit geraumer Zeit eine sehr konkrete Vorstellung von meiner näheren Zukunft: Ich wollte Jura studieren. Grund für die Studienwahl waren unter anderem zwei Eigenschaften, die mir schon zu Schulzeiten nachgesagt wurden und die meiner Ansicht nach für ein Jurastudium durchaus hilfreich sind: Zum einen verbale Ausdrucksstärke, zum anderen strukturiertes Denken.

Dass diese beiden Eigenschaften auch für eine spätere Berufstätigkeit in diesem Bereich wichtig sein könnten, hatte sich schon während eines 14-tägigen Praktikums in der 10. Klasse gezeigt, das ich in einer Marburger Anwaltskanzlei absolviert hatte. Dort erhielt ich einen Einblick in die juristische Arbeitsweise und durfte auch bei Gerichtsterminen dabei sein.

Einer der Gründe für ein Studium in Marburg war, dass zwei meiner Mitschüler sich ebenfalls früh entschieden, ihr Studium dort aufzunehmen. So beschlossen wir, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Für mich sprach auch die Nähe zur blista für Marburg. Ich hatte zu den meisten Lehrern und Betreuern gute Beziehungen, und irgendwie erhoffte ich mir, dass Besuche in meiner alten WG den Start in einen vollkommen neuen Lebensabschnitt erleichtern würden. Diese Hoffnung sollte sich erfüllen, denn meine ehemaligen Mitbewohner und Betreuer hatten immer ein offenes Ohr für meine Erlebnisse an der Uni und häufig auch nützliche Tipps für den Studienalltag.

Weichenstellung: Vieles will berücksichtigt werden

Nachdem ich also schon ziemlich frühzeitig wusste, wohin der Weg gehen sollte, galt es nun, konkret die Weichen Richtung Studium zu stellen. Eine WG-geeignete Wohnung in Marburg zu finden, erwies sich als eine enorme Herausforderung. Zum Beispiel mussten wir an einem der wenigen echten Sommertage des Jahres 2011 auf der Suche nach einer Wohnung unbefestigte Waldwege überqueren und fanden dann Räumlichkeiten vor, die theoretisch als Wohnraum gedacht waren, praktisch aber einer Großbaustelle glichen. Wir mussten drei bis vier Monate suchen und haben in dieser Zeit 13 Wohnungen besichtigt, bis wir etwas gefunden hatten, das unseren Vorstellungen entsprach und auch finanzierbar war. Als absolute Notlösung hatte ich parallel zur Wohnungssuche einen Antrag auf einen Platz im Studentenwohnheim gestellt.

Außerdem galt es nun noch, eine Hilfsmittelausstattung fürs Studium zu bekommen. Neben einem Laptop und einer Braille-Zeile beantragte ich auch einen Drucker und einen Scanner sowie die entsprechenden Sprach- und Scan-Programme. Im Vorfeld hatte ich mich diesbezüglich von einer Hilfsmittelfirma beraten lassen. Dort erfuhr ich, dass man zunächst eine Absage von der Krankenkasse benötigt, um die Hilfsmittel dann beim Sozialamt beantragen zu können. Denn nur das Sozialamt bewilligt Hilfsmittel, die fürs Studium benötigt werden. Alle notwendigen Hilfsmittel wurden glücklicherweise problemlos und rechtzeitig bewilligt, und ich erhielt meine Ausstattung noch vor Studienbeginn.

Auch in Sachen Orientierung und Mobilität benötigte ich Unterstützung. Denn große und teilweise unübersichtliche Unigebäude waren für mich nicht so einfach zu überblicken. Zu diesem Zweck beantragte ich entsprechende Trainingsstunden bei der Krankenkasse. Da sich dieser Prozess jedoch in die Länge zog, versprachen meine Eltern in Vorleistung zu treten, damit ich die neuen Räumlichkeiten rechtzeitig erkunden konnte. Dieser Vorschlag wurde von der Krankenkasse angenommen und die Bezahlung der beantragten Stunden wurde schließlich im Nachhinein genehmigt.

Der Studienbeginn: Humor ist, wenn man trotzdem lacht

So begann ich also Mitte Oktober 2011 mein Jurastudium. In den Einführungsveranstaltungen saßen nach offiziellen Angaben 554 weitere Kommilitonen gemeinsam mit mir im Hörsaal. Anfangs war ich absolut überfordert von den Menschenmengen in den Fluren und der Stimmgewalt, die häufig auch während der Vorlesungen nicht abnahm. Außerdem gestaltete sich für mich auch die Kontaktaufnahme zu anderen Studenten schwierig. Manchmal kam ich mit der einen oder dem anderen gut ins Gespräch. Bei der nächsten Vorlesung hatte ich aber wegen der Lautstärke im Hörsaal keine Chance, irgendjemanden wiederzufinden, und war auf die Kontaktaufnahme der anderen angewiesen. Diese blieb dann allerdings in 95 Prozent der Fälle aus. Diejenigen, mit denen ich dann tatsächlich häufiger ins Gespräch kam, öffneten sich Stück für Stück. Sie hatten bezüglich meiner Blindheit viele Fragen, trauten sich aber meistens nicht diese zu stellen. Also war es an mir, meine Behinderung aktiv anzusprechen.

Dabei kam es manchmal zu merkwürdigen Situationen. Unvergessen bleibt für mich die allererste Stunde in der Arbeitsgemeinschaft zur Einführungsvorlesung im Strafrecht. Dort wird in Kleingruppen gearbeitet und der Vorlesungsstoff anhand konkreter Fälle vermittelt. Schon vor Beginn der Stunde war mir aufgefallen, dass einige unsicher waren, wie sie mit mir umgehen sollten. Deshalb beschloss ich, mich von Anfang an aktiv einzubringen. Die AG-Leiterin sagte: „Wie würdet ihr an folgenden Fall herangehen? A erschlägt B mit einem Stock.“ Ich meldete mich und sagte: „Ich würde erst einmal gucken, ob es sich dabei um einen Blindenstock handelt. Wenn ja, dann ist das ein klarer Missbrauch von Hilfsmitteln.“ Ich hatte gehofft, ein befreites Lachen zu ernten. Stattdessen entstand eine kurze, peinliche Pause, bevor die AG-Leiterin sagte: „Das spielt hier keine Rolle.“ Anschließend nahm sie einen anderen dran, der eine humorfreie und fachlich umfassende Antwort zu geben wusste. Dieses Erlebnis vermittelte bei mir einen Eindruck, der sich auch im Verlauf des Studiums immer wieder bestätigte: Nicht jeder war in der Lage zu verstehen, dass eine gesunde Portion Humor im Umgang mit einer Behinderung möglich ist.

Der Lehr- und Lernalltag: Risiken und Nebenwirkungen juristischer Arbeit

Wenn ich also schon nicht zwischenmenschlich überzeugen konnte, wollte ich unbedingt fachlich mithalten. Also schrieb ich in den Vorlesungen eifrig mit und überarbeitete meine Mitschriften im Anschluss sehr sorgfältig. Diese Arbeitsweise ist allerdings nicht immer ganz einfach, wenn über den Kopfhörer das Sprachprogramm Jaws zu hören ist, hinter einem ein angeregtes Gespräch zweier Kommilitonen über das vergangene Wochenende stattfindet, während vorne der Dozent den Vorlesungsstoff vermittelt. Diese Methode hat mich allerdings durchaus weiter gebracht.

Die Materialien, die allen Studenten zur Verfügung gestellt werden, sind weitgehend barrierefrei. Das ist bei juristischen Materialien insbesondere deshalb der Fall, weil es sich um eine Textwissenschaft handelt, die überwiegend frei von Tabellen und Grafiken ist. Außerdem stellte sich ein weiterer, von mir nicht bedachter Vorteil des Studienstandorts Marburg schnell heraus. Schon einige andere ehemalige blista-Schüler studierten Jura und boten mir sehr bald ihre Hilfe an. Sie unterstützten mich in der Anfangszeit beispielsweise bei der Beschaffung digitaler Materialien.

Auch für die Erstellung von Hausarbeiten, die im Jurastudium regelmäßig gefordert wird, fand ich alsbald eine zuverlässige Vorlesekraft. Jeder Student mit Sehbehinderung hat einen Anspruch auf eine solche Assistenz. Zuständig für die Beantragung einer entsprechenden Hilfsperson ist das Sozialamt. Die Vorlesekräfte erhalten den gesetzlichen Mindestlohn (8,50 € pro Stunde).

Nicht verschweigen sollte man allerdings den zusätzlichen Aufwand, den ein Jurastudium mit Sehbehinderung mit sich bringt. So kann zum Beispiel die Erstellung von Hausarbeiten wesentlich zeitaufwendiger als bei anderen Studenten sein. Schließlich ist es nicht ohne weiteres möglich, einen langen Aufsatz, ein umfangreiches Gerichtsurteil oder gar ein komplettes Lehrbuch schnell zu überfliegen und festzustellen, ob die genannten Quellen etwas Brauchbares für die zu erarbeitende Falllösung enthalten. Deshalb gab es viele Tage, an denen mein Vorleser und ich über einen langen Zeitraum Literatur bearbeiteten, um schließlich festzustellen, dass diese meiner Fallbearbeitung überhaupt nicht nützte.

Die harte Realität: Frustrationsmomente des Studiums

Unabhängig von der Sehbehinderung sollte man wissen, dass man für ein Jurastudium auch eine hohe Frustrationstoleranz braucht. Diese ist schon wegen der relativ strengen Notengebung im Fach Jura erforderlich. Eine ausreichende Arbeit wird mit 4 Punkten bewertet, eine sehr gute mit 18 Punkten. Wenn 200 Arbeiten abgegeben werden, sieht das Ergebnis meistens in etwa so aus: 90 Arbeiten zwischen 0 und 3 Punkten, 70 zwischen 4 und 6, 30 Arbeiten zwischen 7 und 9 und die restlichen 10 Arbeiten im unteren zweistelligen Punktebereich. Mir war das zu Beginn nicht klar. Entsprechend war ich ernüchtert, als ich nach über 100 Stunden Arbeitsaufwand meine erste Hausarbeit mit 5 Punkten und damit nur knapp bestanden zurückbekam.

Außerdem sollte man beachten, dass es bei den Juristen eine Zwischenprüfung gibt. Innerhalb der ersten fünf Semester, also im Grundstudium, müssen drei Scheine in den drei Rechtsgebieten Straf-, Öffentliches und Zivil-Recht erworben werden. Für jeden Schein müssen eine Hausarbeit und eine Klausur bestanden werden, d. h. man muss mindestens 4 Punkte sowohl in der Klausur als auch in der Hausarbeit erreichen – eine Wiederholung von Klausur und Hausarbeit ist aber möglich. Außerdem muss noch im ersten Semester ein Schein in Rechtsgeschichte erworben werden, auch hier muss man die Abschlussklausur mit mindestens 4 Punkten bestehen. Besteht man diese Zwischenprüfung nicht, wird man nicht nur vor Ort exmatrikuliert, sondern ist deutschlandweit nicht mehr zur Fortsetzung des Jurastudiums berechtigt. Aufgrund meiner angesprochenen Probleme bei der Anfertigung von Hausarbeiten befand ich mich in genau dieser Situation und schaffte es – wie viele andere auch – erst im allerletzten Versuch, die notwendigen Hausarbeiten und somit die Zwischenprüfung zu bestehen, so dass ich das Hauptstudium in Angriff nehmen konnte. Diese Zeit war sehr schwer und hat mich persönlich und inhaltlich an meine Grenzen gebracht. Nicht wenige Studierende halten diesem Druck nicht stand und geben das Studium auf, ohne bereits endgültig durch die Zwischenprüfung gefallen zu sein. Doch dank sehr guter Unterstützung meines privaten Umfeldes und vor allem meines Vorlesers bin ich gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen.

Rückblick und Ausblick: Was war, was ist, was wird?

Die weiteren Scheine im Hauptstudium zu erwerben, fiel mir ohne den Druck einer drohenden Exmatrikulation deutlich leichter. Denn die Wiederholung einer Studienleistung zum Erwerb eines Scheins ist hier im Prinzip unbegrenzt möglich – es gibt keine Einschränkungen bei der Anzahl der Versuche. Aktuell bin ich dabei, meinen Schwerpunkt „Recht der Privatperson“, der vor allem erb- und familienrechtliche Vertiefungsveranstaltungen umfasst, und die Vorbereitung für das erste Staatsexamen voranzutreiben.

Daneben arbeite ich seit kurzem 20 Stunden pro Monat als studentische Hilfskraft an einem Lehrstuhl des Fachbereichs. Dort wirke ich beispielsweise bei der Erstellung von Skripten für Lehrveranstaltungen mit. Ich hoffe, dass ich das erste Staatsexamen kommenden Februar machen werde. Daran würde sich ein 20-monatiges Referendariat anschließen, worauf dann das zweite Staatsexamen folgt.

Rückblickend fällt meine Bilanz sehr gemischt aus. Momentan bereichert mich mein Studium sehr und ich kann mir eine Zukunft in der Juristerei durchaus vorstellen. Vor allem die ersten Semester waren aber nicht einfach – geholfen hat mir sowohl ein offener Umgang mit meiner Sehbehinderung und meinen Kommilitonen als auch eine Prise Ehrgeiz, ein ehrliches Interesse an der Sache und vor allem Disziplin. Mit diesen ­Eigenschaften kann man ein Jurastudium ganz gut bewältigen.