Zeitenwende - vom Leben nach der blista

von Lisa Schmidt, Abitur 2015 

Meine Schulbiografie

Im September 2000 wurde ich an der Diesterwegschule (Förderschwerpunkt Sehen) in Weimar eingeschult. Apropos Sehen: Ich sehe nichts und habe auch noch nie etwas gesehen, das nennt man dann wohl geburtsblind. In Weimar absolvierte ich zunächst die Grundschule und anschließend die Klassen 5, 6 und 7. Da ich erst mit sieben Jahren eingeschult wurde und leider für die fünfte und sechste Klasse drei Jahre benötigte, wurde ich zu einer Nachzüglerin, die erst mit fünfzehn die siebte Klasse der blista besuchte und schon ab der neunten Klasse ihre Entschuldigungen und Arbeiten selbst unterschreiben konnte - wie praktisch!

Warum zweimal die Siebte? Ganz einfach: Weil ich in Weimar Russisch als zweite Fremdsprache hatte und hier in Marburg Französisch für mich auf dem Stundenplan stand, musste ich Rückstände aufholen und so kam man zu dem Schluss, dass die Wiederholung der siebten Klasse das Beste für mich wäre. Außerdem war ich nicht sonderlich gut in Mathematik - ein Manko, das sich bis ins Abitur durchzog –, deshalb sollte ich in diesem Fach in meinem Wiederholungsjahr an der Carl-Strehl-Schule ebenfalls Unterstützung erhalten.   

Schulisch musste ich mich an der blista erstmal etwas umgewöhnen. Es gab hier viel mehr Schüler*innen als in Weimar und das Lerntempo, ich kam von der Realschule, war viel schneller. Ich schätze mal, dass ich kein einfacher Teenager war - logisch, ich kam zum Höhepunkt meiner Flegeljahre nach Marburg - und habe rückblickend meinen Lehrer*innen sicher so einiges an Schwierigkeiten bereitet. Das sehe ich als werdende Lehrerin aber erst jetzt – dafür ein „Sorry“ von mir. Außerdem sträubte ich mich auch gegen viele Dinge, die mir, wäre ich bereit gewesen sie vorher zu lernen, mein Leben im Nachhinein sicher etwas erleichtert hätten - ich sage dazu nur „Mathe“. Es bedurfte einer Engelsgeduld und einigem didaktischen Könnens, um mich „auf den richtigen Weg zu schubsen“. Irgendwann jedoch „platzte der Knoten“ und ich begann, mir wirklich Mühe zu geben. Schließlich ging es um mein Abitur.

Meine WGs - Orte des Lebens und Lernens

Während meiner blista-Zeit durfte ich in zwei tollen WGs leben: In der Biegenstraße 44 oben - damals gab es nur eine blista-WG in diesem Haus und die befand sich unter dem Dach - wohnte ich von Klasse 7 bis 11. Auch in der WG hatte ich mich zunächst verweigert: Küchen- und Einkaufsdienst waren mir fremd, kam ich doch aus einem Internat, an dem man alles auf dem Silbertablett serviert bekam. Ich wollte nichts lernen, ich wollte keine neuen Wege entdecken, ich wollte einfach so leben, wie ich es gewohnt war. „Ich kann das nicht“ war mein Standardsatz. Doch mit dieser Einstellung kam ich - ein Glück - nicht weit: Nicht selten ließen meine Erzieher*innen mich auflaufen und dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Die zweite WG, die mich bereichert hat, war die Selbständigen-Wohngruppe Robert-Koch-Straße 3.1. - also die WG in der mittleren Etage. Nicht selten denke ich an die Partys zurück, an das alljährliche „Dschungelcamp“-Schauen mit Chips im Wohnzimmer und an das Kochen in der Wohnküche. Die letzten zwei Jahre meiner Schullaufbahn habe ich in dieser Wohngruppe verbracht und dort viel gelernt, was mir heute weiterhilft.

Abi - und nun?

2015 war es dann so weit:  Ich machte mein Abitur - ein unglaublich großer Schritt für mich, denn ich dachte immer, ich würde das Abi nie bestehen. Allerdings hatte ich diese Art Gedanken auch später noch vor vielen weiteren Prüfungen gehabt, bestanden habe ich sie bisher jedoch alle. In meinem Horrorfach Mathe bestand ich das mündliche Abitur mit einer Art Ratespiel, hatte ich doch auf Lücke gelernt. Ich schloss die Prüfung im hohen einstelligen Bereich ab. War es nur Glück oder war doch etwas Können dabei? Daraus gelernt habe ich auf jeden Fall etwas: Nie wieder auf Lücke lernen! Nun hatte ich also das Abitur in der Hand, dieses magische Zeugnis mit den unbegrenzten Möglichkeiten. Und was nun?

Vom Mischpult zum Lehrerpult

Eigentlich wollte ich ja Radiomoderatorin werden. Bei HR3, YouFM oder sonstigen Sendern die Leute zu unterhalten, war ein großer Traum von mir. Ich durfte sogar ein zweiwöchiges Praktikum beim Sender MDR Jump machen. Aber leider ging mein Traum aufgrund meiner Sehbehinderung nicht in Erfüllung, denn man muss sehr viel Technik gleichzeitig steuern, nur gut reden können reichte leider nicht und so entschied ich mich für meine zweite große Passion, das Unter-richten. Schon als Schülerin hatte ich viel Nachhilfe in Englisch gegeben und Spaß daran gehabt. Die „Aha“-Momente anderer Menschen gaben mir ein gutes Gefühl und genau damit wollte ich in Zukunft meine Brötchen, Paninis oder sonstigen Backwaren verdienen.  

Ich entschied mich für ein Studium in meiner „Hood“ Marburg, und zwar nicht aus den altbekannten Gründen, Blindenstadt und so weiter, sondern weil Marburg für mich ein Schmelztiegel der Kulturen und der Hort der Bildung ist. Ich liebe die Kneipenkultur, die Offenheit der Menschen, die Schönheit dieser Stadt. Und nicht zuletzt blieb ich auch wegen der Liebe hier. Noch während des Abiturs hatte ich mit meinem langjährigen Partner - auch ein ganz netter Nebeneffekt meiner blista-Zeit - eine Wohnung in der schönen Marbach bezogen. Noch heute sind wir dort fest verwurzelt. Also blieb keine andere Wahl als die Philipps-Universität, denn welcher alteingesessene Marburger pendelt schon gern nach Gießen?

Das Studium - Lernen endet nie

Gemeinsam mit Sehenden zu studieren, war am Anfang etwas ungewohnt für mich, denn ich hatte die ganze Zeit an der blista in meiner „Bubble“ verbracht. Ich hatte ausschließlich sehbehinderte oder blinde Freund*innen und musste mich nun umgewöhnen. Aus Angst, keinen Anschluss zu finden, hatte ich schon vorher begonnen, zu netzwerken und eine WhatsApp-Gruppe für zukünftige Lehramtler*innen an der Philipps-Universität im Wintersemester 2015/2016 ins Leben gerufen. Unsere Gruppe, am Ende bestehend aus um die 30 Studierenden, traf sich vor Studienbeginn gemeinsam mit einem Teamer – einem Studenten aus einem höheren Semester - in einer Kneipe in Marburg. Wir besprachen schon einmal verschiedene Fragen des Studiums und ich merkte, dass nicht nur ich, sondern auch die anderen zukünftigen Studierenden davon profitierten. Das sorgte auch dafür, dass ich sowohl bei Kneipentouren als auch Ersti-Partys nicht allein war, denn „du bist doch die mit der WhatsApp-Gruppe, oder?“. Weiterhin durfte ich viele Fragen beantworten wie: „Bei wieviel Grad kann ich meine Unterhosen waschen, ohne dass sie eingehen?“ oder „Wie lange halten sich eigentlich Konserven?“, denn die meisten Erstis hatten noch nie allein gelebt. Und ja, Frage zwei wurde mir wirklich gestellt!

Das Auslandsjahr

Im September 2017 kam dann mein großer Moment. Ich machte mich auf den Weg in ein großes Abenteuer, mein Aus-landsjahr in Irland. In der Nähe von Dublin, genauer gesagt in Maynooth, lebte und studierte ich neun Monate lang. Die Organisation und Koordination lief über das Erasmus-Programm und ich erhielt von Seiten der Universität viel Unterstützung. Dieses Abenteuer bereitete mir Anfangs großes Unbehagen, denn ich wusste nicht, was auf mich zukam und kannte mich in den ersten Wochen nach meiner Ankunft vor Ort nicht gut aus. Ich bekam zunächst einmal Mobilitätsunterricht. Darum kümmerte sich der NCBI (national council for the blind Ireland). Die Uni organisierte mir eine Mob-Trainerin, eine 60-jährige, sehr mütterliche Frau, die mit mir alle wichtigen Wege übte. Diese Zeit in Irland beflügelte mich ungemein und machte mir klar, dass jede Herausforderung, die nun noch kommen würde, machbar für mich sein würde. „Du hast als blinde Studentin im Ausland gelebt und studiert, dann schaffst du auch das, “ war fortan mein Motto.

Und weiter geht´s …

Im Juni 2018 kam ich wieder zurück und nahm zum Wintersemester 2018/19 mein Studium wieder auf. Ich hatte ein gutes Durchhaltevermögen und kam weiterhin recht flott voran, denn wider Erwarten war das Lehramtsstudium ziemlich barrierefrei, jedenfalls in den meisten Teilen - ich bin da aber auch sehr genügsam -, und den Rest an verbliebenen Barrieren räumten meine guten Assistenzkräfte beiseite. Hin und wieder musste ich aber doch um die Berücksichtigung meiner Seheinschränkung im Studium kämpfen, denn es war mir nicht in jedem Fall möglich, eine Prüfung schriftlich abzulegen – auch wenn dies von den zuständigen Stellen zunächst anders gesehen wurde. Mein erstes Staatsexamen absolvierte ich dann 2020. An dieser Stelle muss ich für die hessische Lehrkräfte-Akademie, die für die Prüfung zuständig ist, eine Lanze brechen; die Verantwortlichen haben sich richtig Mühe gegeben und waren sehr zuvorkommend.  

… und ab in die Praxis

Mein allererstes Orientierungspraktikum habe ich an einer Grundschule in meiner alten Heimatstadt gemacht. Die Schule war recht klein und übersichtlich, also genau das Richtige zum Einstieg. Das erste Praktikum (zwischen dem 2. und 3. Semester) habe ich dann hier in Marburg an der Gesamtschule am Richtsberg absolviert und ein weiteres Praktikum am Philippinum-Gymnasium. Im Vergleich zum Studium, das dann doch recht wenig praxisorientiert ist, sind die Schulpraktika und das Referendariat eine ganz andere Hausnummer. Hier bin ich schon hin und wieder an meine Belastungsgrenzen gekommen – und als Neuling, vor allem mit einem Handicap, fühlt man sich unter Dauerbeobachtung.

Und jetzt?

Seit Mai 2021 bin ich Referendarin an einer Privatschule hier in Marburg, wo ich zwei Oberstufenklassen unterrichte - eine in Deutsch und eine in Englisch. Trotz stressiger Phasen macht mir die Arbeit mit meinen Schüler*innen sehr viel Spaß. Ich wohne nach wie vor in der schönen Marbach und bin noch immer glücklich vergeben. Mein zweites Staatsexamen mache ich voraussichtlich dieses Jahr im Oktober.

An meine blista-Zeit denke ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück. Lachend, weil ich sehr viel gelernt habe, weinend, weil ich noch viel mehr hätte lernen können. Auch wäre ich gerne noch etwas strukturierter und gleichzeitig achtsamer. Natürlich würde ich gerne auch mit Stress und Kritik besser umgehen können – daran arbeite ich noch. Denn - obwohl ich mich oft gegen neue Erfahrungen gesträubt habe, habe ich doch einen großen Sprung gemacht, den ich ohne die blista wohl nie in diesem Umfang vollzogen hätte.