Menschen: „Die menschliche Stimme beim Vorlesen bleibt”
Thorsten Büchner. Früh fing Doris Seidemann an zu arbeiten. Mit 15 Jahren begann sie eine Lehre zur Verkäuferin, viele Jahre arbeitete sie in diesem Beruf. Später, es war 1975, begann sie beim italienischen Süßwarenhersteller „Ferrero“ in Stadtallendorf am Band zu arbeiten. „Meine Aufgabe war es, die einzelnen in Stanniol verpackten Überraschungseier in die Packungen für den Verkauf zu bugsieren.“ Nach vier Jahren hatte Seidemann genug und beschloss, ihren Schulabschluss nachzuholen. Nacheinander schloss sie die „Mittlere Reife“, die Fachhochschulreife und das Abitur erfolgreich ab, begann ein Studium, um dann schnell festzustellen, dass „das Studentendasein nichts für mich war, obwohl ich stolz darauf war, als erste in der Familie eine Universität zu besuchen“. Es folgte eine Umschulung zur Datenverarbeitungskauffrau.
Nach mehreren Tätigkeiten, zumeist als Schwangerschaftsvertretung oder Saisonarbeiterin, las Doris Seidemann im Sommer 1999 eine Stellenanzeige der blista, die für ihre Hörbücherei „jemanden mit EDV-Kenntnissen“ suchte. „Da ich eigentlich immer schon an der blista arbeiten wollte, habe ich mich einfach beworben, ohne zu wissen, was da genau auf mich zukommen würde.“ Die blista war ihr schon seit ihrem Umzug 1980 nach Marburg ein Begriff. „Ich hatte einige Freunde und Bekannte, die bereits hier arbeiteten und mir von der blista viel erzählten“, erinnert sie sich. Von einem früheren Besuch auf dem blista-Gelände blieben ihr besonders die „parkähnliche Atmosphäre“ und das „schöne Ambiente“ in guter Erinnerung. Daher freute sie sich sehr, als sie die Zusage erhielt.
„Am Anfang habe ich mich aber schon sehr gewundert. Ich war für den EDV-Bereich eingestellt worden und als ich am ersten Tag in die Hörbücherei kam, war weit und breit kein einziger Computer zu sehen“, schildert Seidemann ihre ersten Eindrücke. Damals arbeitete die Hörbücherei noch analog, produzierte ihre Hörbücher auf Tonbändern, die dann für die Kunden auf Kassetten überspielt wurden. Die digitale Zukunft leuchtete 1999 schon ein wenig am entfernten Horizont. „Wann und wie man auf DAISY umstellen würde, wusste damals noch niemand.“
Ihren Arbeitsalltag bestritt Doris Seidemann damit, fehlerhafte Kassetten zu überprüfen und mangelhafte Hörbuchkassetten, die bereits dutzend- bis hundertfach abgespielt worden waren, durch neue Kopien zu ersetzen. Diese „Nachschnitte“ wurden vom Original des Mutterbandes auf Kassetten übertragen. „Außerdem war ich auch dafür zuständig, die neu angeschafften Hörbücher aus anderen Hörbüchereien zu vervielfältigen, damit wir auf den zu erwartenden Ausleihansturm bei Bestsellern vorbereitet waren.“
Mitte der 2000er Jahre änderte sich in der Hörbücherei alles. Die Produktion wurde digitalisiert, neue Studios entstanden. „Unser Arbeitsbereich hat sich auch fundamental geändert. Endlich hatte ich die EDV, für die ich eingestellt wurde.“
Heute „bereitet“ Doris Seidemann mit ihrem Kollegen die Bücher, die in der DBH aufgesprochen werden, für die Produktion vor. „Wir strukturieren das Buch mit einer speziellen Software so vor, dass die vorgegebene Struktur des Buches, wie etwa Kapitel und Unterkapitel, auf den PCs in den Sprecherkabinen erscheinen. So können dann die Sprecher die jeweiligen Kapitel in die vorbereitete Struktureinheit einlesen. Am Ende entsteht dadurch dann ein navigierbares DAISY-Hörbuch.“
Nach jeder Buchaufsprache „mastert“ Doris Seidemann die Hörbücher. Das bedeutet, dass sie jede Struktureinheit überprüft, um etwa die Lautstärke der Aufnahmen anzupassen und am Ende jedes „Headings“ eine Stille einzufügen. Nach einigen weiteren Arbeitsschritten ist das Buch dann für die Ausleihe fertig. Als Studioleiterin koordiniert Doris Seidemann die 28 Sprecherinnen und Sprecher der DBH, teilt ihnen die Aufnahmezeiten in den insgesamt vier Studios zu und organisiert so den zeitnahen Entstehungsprozess eines neuen Hörbuches. „Natürlich sind wir auch – gerade bei neuen Sprechern – am Anfang unterstützend tätig. Dann geben wir Hinweise wie: Nicht die Sätze so zerhacken, langsamer lesen, nicht soviel Pathos in die Sätze packen.“.
In ihren mittlerweile siebzehn Jahren Hörbücherei hat sie ein gutes Gefühl für „gute Sprecherinnen und Sprecher“ entwickelt. „Wichtig ist, dass ein Sprecher oder eine Sprecherin ein Gefühl für die Geschichte hat, versteht was er liest und sich nicht von Satzzeichen zu Satzzeichen hangelt.“ Manche Texte seien so schwierig oder schlecht geschrieben, da könne „auch ein guter Sprecher nicht mehr retten, was der Autor angerichtet hat“.
„Einige unserer Sprecher sind echte Naturtalente, lesen jeden Text passgenau, machen kaum Fehler. Eine echte Freude beim Zuhören!“ Im Laufe der Jahre hat Doris Seidemann bestimmte Lieblingssprecher für sich entdeckt, aus Marburg, aber auch von den anderen Hörbüchereien: „Da ist es immer wieder ein Genuss, beim Zusammenstellen von Hörausschnitten für unser Infomagazin „Kopfhörer“ in diese Bücher hineinzuhören.“ Durch ihre Arbeit in der DBH hat Seidemann viele spannende Leseanregungen bekommen. „Wenn mir ein Buch gefällt, dann schau ich gleich, ob ich es in der Stadtbücherei finde oder es mir irgendwo kaufen kann.“
Bei blista-Sommerfesten ist Doris Seidemann immer am Infostand der DBH zu finden. „Mir macht es einfach Spaß, in Kontakt mit unseren Hörerinnen und Hörern zu kommen und mich ins lebendige Getümmel der blista zu stürzen.“ Da Doris Seidemann tagaus, tagein, meist mit Kopfhörern, mit gesprochener Literatur, ob Roman, Krimi, Sachbuch oder dem Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ zu tun hat, hört sie abends nach Feierabend „erstmal zwei, drei sehr laute Stücke Heavy Metal, um mir die Ohren richtig durchzupusten.“
Sie hofft – und ist sich eigentlich auch sicher –, dass trotz der technischen Fortschritte mit synthetischen Stimmen nach wie vor „eine menschliche Stimme beim Vorlesen“ etwas ganz Besonderes bleibt. „Das wird nicht verloren gehen, diese Intensität, dieses Gefühl.“