Spannung, Spaß und Speisen zwischen Geisa und Treysa

Abschied von der Mittelstufe

von Till Zipprich, Schüler der Jahrgangsstufe 11 | Ein Rückblick auf die Zeit vor den Sommerferien: Alle Arbeiten sind geschrieben, alle Noten vergeben und so stellt sich natürlich die Frage, was man mit der verbleibenden Zeit des Schuljahres noch anstellen könnte. Sicher, man könnte knallhart weiter ganz normalen Unterricht machen, doch damit hätte man als Lehrkraft sogleich die gesamte Klasse zum Feind. Kein besonders schönes Szenario zum Auseinandergehen, denn nach den Sommerferien wird sich die bisherige Klasse 10 B ganz anders wiederfinden. Manch einer geht ab und der Rest wird womöglich mit den anderen Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs ganz neu verteilt. Ein besonderes Ereignis ist also auch als eine Art Abschiedsfeier durchaus angebracht.

Also werden die Themen der aktuellen Schulfächer durchforstet und nach Aktivitäten gesucht, die fast, aber nicht ganz etwas mit dem derzeitigen Schulstoff zu tun haben. Die Tatsache, dass dank niedriger Corona-Inzidenzzahlen wieder einige Aktivitäten möglich sind, kommt dem Suchenden dabei freilich zugute. Eine dieser nun wieder geöffneten Einrichtungen ist der Point Alpha, eine ehemalige Grenzanlage zwischen dem Hessischen Rasdorf und dem Thüringischen Geisa, also anno dazumal zwischen der BRD und der DDR, die die drei Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung recht gut überstanden hat, weshalb man die alten Grenzanlagen hier fast noch im Originalzustand besichtigen kann.

Herr Dr. Roos und einige Schüler*innen stehen an einem hölzernen Schlagbaum, der einen Weg auf dem ehemaligen Grenzstreifen absperrt und erklärt etwas.

Unser Geschichts- und Klassenlehrer Herr Dr. Roos hatte schon so manche Klasse durch einen der laut Internetseite „heißesten Punkte des Kalten Krieges“ in der Rhön geführt und eine Menge guter Erfahrungen gesammelt, weshalb es ihm ein Leichtes war, uns für den Besuch der Anlage zu begeistern.

Wir baten ihn wiederum, dasselbe mit Frau Körber zu versuchen. Sie hatte jenen Teil von uns, der bereits vor der neunten Klasse nach Marburg gekommen war, als Klassenlehrerin betreut. Da diese Zeit uns „Veteranen“ noch in guter Erinnerung ist und die Klasse sich ja nun in Auflösung befindet, wäre das doch ein schöner Abschied, nicht wahr?

Ein Maschendrahtzaun entlang des ehemaligen Grenzstreifens direkt am Zaun entlang fotografiert und mit blauem Himmel im Hintergrund.

Das sah sie erfreulicherweise genauso und so zogen wir an einem strahlend schönen Schulsamstag mit zwei Bussen los, um uns auf die Spuren Deutscher Geschichte zu begeben. Nach gut zweistündiger Fahrt trafen wir auf hessischer Seite ein, wo wir von einer Gästeführerin in Empfang genommen wurden, die uns nun etwa zwei Stunden lang durch den ehemaligen Grenzstreifen führte.
Die eigentliche innerdeutsche Grenze machte genau genommen nur einen kleinen Teil der Sperrzone aus, die seitens der DDR aufgebaut worden war. In einem Gebiet von fünf Kilometern ins Landesinnere hinein gab es ganz erhebliche Einschränkungen. So durften Menschen, die in diesem Gebiet lebten, nur noch zu bestimmten Zeiten ihre Häuser verlassen oder ihre Wohnorte nur noch nach Vorzeigen eines Ausweises betreten.

Auch Umsiedlungen in andere Gebiete der DDR standen auf der Tagesordnung, denn von diesen Menschen im direkten Grenzgebiet mit seinen widrigen Lebensbedingungen und der gleichzeitigen Nähe zum Westen ging freilich eine erhöhte Fluchtgefahr aus. Außerdem waren die Bewohner dieses Sperrgebiets ohne Zweifel ein Problem, wenn es galt, die Abschirmung weiter voranzutreiben. Denn auch wenn sich in den 1970er Jahren eine Entspannung im Ost-West-Konflikt abzeichnete, galt das für die Grenze an sich absolut nicht, sondern die „Grenzsicherungsmaßnahmen“ des Ostens wurden im Gegenteil weiter verstärkt. Wie stark sie tatsächlich waren, sollten wir später erfahren, doch erst einmal ging es weiter hart an der Grenze entlang.

Wir gingen auf dem alten Kolonnenweg, also einer Art Straße, die sich an der gesamten innerdeutschen Grenze entlang zieht und durch ihre robuste Bauweise noch heute gut erhalten ist. Der Kolonnenweg verläuft etwa 50 bis 200 Meter von der eigentlichen Grenze entfernt und diente der DDR dazu, jeden Punkt an der Grenze schnell anfahren zu können. Oftmals ist dieser Weg recht schmal, weshalb einige von uns hinter - statt nebeneinander - gehen mussten. Eine Polonaise an der innerdeutschen Grenze.

Der Weg führte uns an einer Reihe von Relikten aus dem Kalten Krieg vorbei. Manche konnten wir uns blind nur durch Beschreibungen erschließen, andere waren für uns selbst erlebbar, wie beispielsweise eine Reihe kleinerer Bunkeranlagen, die wir betreten durften. Klanglich ein sehr interessanter Eindruck.

Foto der hügeligen Landschaft in der Rhön mit mageren Wiesen und Waldstreifen.

Je mehr die Gästeführerin erzählte, desto mehr Fragen kamen unsererseits auf. Warum wurden die Maßnahmen an der Grenze immer strenger? Wer hat Deutschland eigentlich so aufgeteilt? Gab es auch Leute, die vom Westen in den Osten gingen? Und gab es auch Leute, die die Flucht in den Westen geschafft hatten? Diese und weitere Fragen wurden kompetent beantwortet und auch mit persönlichen Erfahrungen ergänzt, denn unsere Führerin hatte die Grenze noch selbst erlebt. Mehr noch: Da ihre Eltern vom Osten in den Westen gegangen waren, hatte sie Familie jenseits des Zauns und somit einen Bezug zu beiden deutschen Staaten. Sie schien sich darüber zu freuen, dass das Interesse der Klasse an der Geschichte der deutschen Teilung so hoch war, was die häufigen Nachfragen und Ergänzungen bewiesen. Und so war es für alle Beteiligten ein recht kurzweiliger Spaziergang.

Im Anschluss war Mittagspause, in der es sich der Autor dieses Artikels nicht nehmen ließ, einen alten Turm der US-Funküberwachung zu besteigen und dort einer Beschäftigung nachzugehen, die der ursprünglichen Funktion des Gebäudes beinahe gerecht wurde. In dieser exponierten Lage war ein sehr interessanter Radioempfang gegeben, der einen weiten Einblick in den Äther beiderseits der ehemaligen Grenze gewährte.

Nachdem alle Brote gegessen und alle Sender identifiziert waren, schaute sich unsere Klasse nun mehr im Alleingang die eigentliche Grenze an. Denn auch das ist ein großer Vorteil an Point Alpha. Hier kann man die Grenzanlagen in all ihren Ausbaustufen besichtigen, wie sie über die Jahre hinweg auf-, aus- und umgebaut wurden. War anfangs noch manch einer von uns der festen Überzeugung, er hätte doch damals problemlos die Grenze überqueren können und wüsste gar nicht, was das Problem sei, sahen wir schnell, dass es alles andere als einfach war, in den Westen zu fliehen, im Gegenteil. Da hätte es scharfe Hunde in einer Laufanlage, einen Graben, eine abgeschrägte Mauer, ein Mienenfeld und einen extrem engmaschigen Zaun zu überwinden gegolten. Bis man das geschafft hätte, hätten die Grenzsoldaten einen längst bemerkt und eingegriffen. Dabei hätte den Grenzgängern weiter zum Nachteil gereicht, dass sie durch den Grenzzaun zwar geradeaus, aufgrund einer speziellen Konstruktionsweise jedoch nicht nach links oder rechts hätten sehen können, so dass sich die Grenzer von der Seite her quasi unbemerkt anschleichen konnten.

Unsere 10 B wäre ja nicht unsere 10 B, hätten wir nicht jede Menge Blödsinn gemacht. Da wurde auf den großen, hölzernen Hunden geritten, die als Symbol für ihre Artgenossen aus Fleisch und Blut an der Laufanlage standen, da fand ein Wettklettern über die Mauer auf das Minenfeld statt und da wurde gefeixt, die DDR hätte mit der Bauweise ihres Grenzzauns Sehbehinderungen simuliert, doch trotz dieses ganzen Blödsinns wurde uns allen vieles klarer. Wir, die wir niemals mit der Situation eines geteilten Deutschlands in der Realität konfrontiert waren, konnten uns nun um einiges besser in die damalige Situation hineinversetzen.

Ein Teil der Gruppe untergehakt von hinten beim Wandern auf asphaltierter Strecke durch den Wald.

Und natürlich boten die Wege zwischen den einzelnen Stationen unserer Grenztour genug Zeit, um über alles nur Mögliche zu sprechen. Erinnerungen an längst vergangene Schuljahre wurden wieder wach, ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler bekamen Gruppenfotos von ihren früheren Klassen geschickt und so entstand eine Mischung aus Freude, das alles erlebt zu haben, und einer gewissen Sentimentalität, wie sie nun einmal bisweilen aufkommt, wenn man in Erinnerungen schwelgt. Das alles untermalt von Vogelgezwitscher in äußerst vielfältigen Variationen, denn durch die Zeit des Kalten Krieges, in der der Grenzstreifen ja nahezu unbewohnt und daher beinahe sich selbst überlassen war, haben sich hier viele für die Region seltene Vogelarten angesiedelt. Dieses naturelle Erbe wird heute sehr bewusst gepflegt.

Gegen 15:30 Uhr bestiegen wir wiederum die Busse und machten uns wieder auf ins Landesinnere Hessens, jedoch noch nicht zurück nach Marburg. Wir fuhren stattdessen nach Treysa, um dort im Garten von Herrn Dr. Roos zu grillen. Im Vorfeld waren wir gespannt gewesen, wie wohl die Familie unseres Klassenlehrers so sei. Und was soll ich sagen: Nette, sehr hilfsbereite Menschen, die sich interessiert mit uns unterhielten. Familie Roos ließ sich auch kulinarisch nicht lumpen. Eine sehr vielfältige Auswahl an Fleisch, Salaten, Brot und Gemüse bot für alle etwas und auch das Angebot an Getränken war recht üppig, sodass nach einem geselligen Lagerfeuer niemand mit leerem Magen nach Hause fahren musste, als wir kurz nach 22 Uhr die Rückreise gen Marburg antraten, im Gepäck einen Haufen schöner Erlebnisse von heute und aufgefrischter Erinnerungen an die letzten Jahre, wie viele es auch immer genau gewesen sein mochten. Ein wunderbarer Ausflug, der sich auch seiner Funktion als Jahresabschluss als absolut würdig erwies.