Menschen

Der Herr der Rippen und Noppen

„Geht das so für Blinde, Herr Willumeit?”

Thorsten Büchner*. Dass Gert Willumeit auf die blista aufmerksam wurde, war zum einen dem Zufall, zum anderen seiner Hartnäckigkeit geschuldet. Nach seinem Soziologie- und Philosophiestudium in Gießen war Willumeit zunächst einige Jahre in der Betreuung von arbeitslosen Jugendlichen tätig, bevor er eine Stelle beim „Hessischen Institut für Lehrerfortbildung“ annahm um – es war Ende der 1980er Jahre – das Thema AIDS-Aufklärung und Prävention ins Bewusstsein von Schülern, Lehrern und Eltern zu rücken. Als diese Stelle nicht verlängert wurde, wollte Willumeit eigentlich eine berufliche Weiterbildung im familientherapeutischen Bereich angehen. Sein Sachbearbeiter beim Arbeitsamt sagte ihm jedoch, dass derzeit keine solchen Maßnahmen angeboten würden. Dem wollte Gert Willumeit genauer auf den Grund gehen und durchforstete die Broschüren der Träger von beruflichen Weiterqualifikationen. Dabei stieß er auf die blista, genauer auf die Rehabilitationseinrichtung (RES), die auf ihre 18monatige Weiterbildung zum Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte hinwies. Die Arbeit mit Jugendlichen kannte Willumeit aus seiner früheren Tätigkeit, mit Menschen mit Behinderung hatte er im Rahmen seines Studiums bereits gearbeitet – seine Neugier war geweckt. Er bewarb sich um einen der Ausbildungsplätze und konnte drei Monate später mit dem Lehrgang beginnen.

„Für mich war die Eigenerfahrung unter der Augenbinde, die zur Ausbildung dazugehört, wichtig und zentral, um mich in die Thematik eindenken und einfühlen zu können“, beschreibt er seine ersten Eindrücke. Direkt im Anschluss an den Kurs wurde Willumeit von der blista übernommen und unterrichtet seit 23 Jahren Schüler in „Orientierung & Mobilität“ (O&M) sowie in „Lebenspraktischen Fähigkeiten“ (LPF).

Im Unterricht mit den Schülern geht es in Klasse 5 beispielsweise darum, die Orientierung im Klassenraum, die wichtigsten Wege innerhalb der Schule und den Weg von und zur Wohngruppe zu erlernen. So wird nach und nach der Bewegungsradius erweitert und die Schüler lernen durch Willumeits Anleitung, sich eigenständig und sicher innerhalb Marburgs zu bewegen.

„Im Vergleich zu früher mache ich schon die Beobachtung, dass einige Schüler mit mehr Vorkenntnissen im O&M-Bereich zu uns kommen“, so Willumeit. Außerdem habe sich – gerade in den letzten zehn Jahren – die barrierefreie Verkehrsraumgestaltung enorm weiterentwickelt. Akustische Ampelanlagen sind in Marburg seit Jahrzehnten aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken, zunehmend kamen in den letzten Jahren auch sogenannte Bodenindikatoren hinzu, Rippen- oder Noppenstrukturen, die mit dem Blindenstock taktil erfasst werden können und dem blinden Fußgänger so Informationen vermitteln.

Gert Willumeit mit kariertem Hemd und Lederjacke
Gert Willumeit mit kariertem Hemd und Lederjacke © blista 2015

Seit fast zwanzig Jahren beschäftigt sich Gert Willumeit damit, wie durch entsprechende taktile Hinweise, etwa an „Querungsstellen“ oder Bushaltestellen, blinden und sehbehinderten Menschen die eigenständige Orientierung erleichtert oder gar erst ermöglicht werden kann. „Alles begann damals in Gießen. Dort wollte ich eine Dame, die umgezogen war, darin unterrichten, von ihrer neuen Wohnung aus an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Es war schlichtweg nicht möglich, da in der Nähe eine so große und unübersichtliche Straßenkreuzung war, dass ich sie dort nicht gefahrlos unterrichten konnte“, erinnert sich Willumeit an sein Aha-Erlebnis in Sachen Barrierefreiheit.

Er nahm dann, auf Anraten des Gießener Blindenbundes, mit der städtischen Bauabteilung Kontakt auf, um auf die Gefährdungssituationen hinzuweisen. Daraus entstand eine knapp 90seitige Dokumentation, mit der es Willumeit gelang, Planer, Ingenieure und die ausführenden Baufirmen nach und nach für die Belange blinder und sehbehinderter Passanten zu sensibilisieren. Verschiedene DIN-Normen legen genau fest, wie etwa Nullabsenkungen am Gehsteig so abgesichert werden, dass sie für Blinde, deren Stöcke niveaugleiche Flächen nicht ertasten können, keine Gefahr bedeuten.

Willumeit ist es enorm wichtig, „mit den Betroffenen gemeinsam“ für die barrierefreie Verkehrsraumgestaltung einzutreten. So engagiert er sich seit vielen Jahren auch in Marburg am „Runden Tisch Barrierefreiheit“, an dem Vertreter des städtischen Bauamts mit Vertretern der Blinden- und Sehbehindertenverbände sowie von Rollstuhlfahrern über anstehende Bauprojekte und deren Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung diskutieren. So hat sich Willumeit in den letzten Jahren mit viel Engagement und Herzblut, das weit über seine Arbeitszeit hinausging, mit dem Umbau des Marburger Hauptbahnhofs und des Bahnhofsvorplatzes beschäftigt. Dabei hat er eine Handvoll blinde und sehbehinderte Marburger an seiner Seite, mit denen er gemeinsam an Baustellenbesprechungen teilnahm, in Planungsskizzen blicken konnte und manchmal auch direkt an der laufenden Baustelle auf falsch eingesetzte Bodenindikatoren hinwies.

„Ich habe durch meine Tätigkeit in den letzten zwanzig Jahren einiges übers Bauen gelernt, von der Planung bis hin zur Ausführung.“ Regelmäßig komme es heute vor, dass es in seinem Büro klingelt und Mitarbeiter einer Baufirma oder eines Bauamts die Frage an ihn richten: „Gucken Sie doch mal unsere Planung an. Geht das so für Blinde, Herr Willumeit?“ Dann überprüft er die Planungen, schließt sich mit seinen blinden Experten kurz und gibt Hinweise, Tipps, wie die Planungen verbessert werden können. „Zwei große Spannungsfelder stellen sich immer wieder heraus. Oft wird ein Widerspruch zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit hergestellt, wobei Barrierefreiheit noch zu sehr nur auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern reduziert wird. Zum anderen wird oft das ästhetische Argument ins Feld geführt, warum bestimmte Leitsysteme für Blinde nicht realisierbar sein sollen“, erläutert der Rehalehrer. In den letzten Jahren beobachtet er schon einen Gesinnungswandel, nach wie vor sei es allerdings unheimlich schwierig, die Planer von der großen Bedeutung von Kontrasten zu überzeugen, die gerade für Sehbehinderte einen wichtigen Bestandteil bei der Orientierung ausmachen.

„Natürlich gibt es bei solchen Bauprojekten Rückschläge, wo Dinge falsch oder unzureichend umgesetzt werden“, erklärt Willumeit. Das sporne ihn aber eher an. „Das war schon in meinem Philosophiestudium so. Ich bin den schwierigen Texten eigentlich nie aus dem Weg gegangen, wollte sie immer ergründen und verstehen“, blickt er zurück.

Neben den Rückschlägen gibt es überwiegend positive Erlebnisse, wie etwa der gelungene Bahnhofsvorplatz oder die Momente im Unterricht, „in denen ich merke, dass die Schüler – gerade die späterblindeten Teilnehmer der Blindentechnischen Grund-Reha – voller Freude ihre Selbstständigkeit wiedergewinnen.“

Die barrierefreie Umwelt- und Verkehrsraumgestaltung ist Gert Willumeit so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er, wie er einräumt, auch im Urlaub stets auf der Suche nach kreativen, für Blinde und Sehbehinderte praktikable Lösungen ist. „Dann fotografiere ich schon mal im Spanien-Urlaub eine Straßenkreuzung mit den Blindenleitsystemen.“

Für die Zukunft ist es Willumeit ein Anliegen, dass sowohl die Rehalehrer als auch die Blindenselbsthilfe ihr Fachwissen flächendeckend mehr in die Entscheidungen auf lokaler Ebene einbringen können, damit irgendwann sein Traum von der „uneingeschränkten Mobilität für blinde Menschen“ Wirklichkeit wird.