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heute: Wenn ich normal wäre, würde ich alles  dafür tun nicht normal zu sein, bin ich normal?

(Antonios Ieropoulos)

von Winfried Thiessen

Herr W steht an der Spüle. Ein früher Schulheimkehrer schleicht mit gesenktem Kopf an ihm vorbei und setzt sich an den Küchentisch. 

Holla die Waldfee, das sieht ja übel aus!Transporter! Mitten auf dem Gehweg!

Die Tür stand offen und ich zack volle Kanne mit dem Gesicht an die Kante! Der Fahrer hat sich nicht einmal blicken lassen – was für ein Arsch! 

Lass mal sehen! - Ich glaub, da braucht es kein Pflaster. Aber sonst alles in Ordnung mit dir, oder?

Nein, überhaupt nichts ist in Ordnung. Da versuche ich jeden Tag mit meiner Sehrestverschlechterung klarzukommen – aber so was haut mich wieder voll aus den Latschen. Ich will mein altes Leben zurück, einfach wieder normal sein!

Mit Playmobil nachgestellte Szene: ein Kind mit roter Basecap und Langstock stößt an die offene Hecktüre eines Transporters. Gegenüber von ihm steht ein Erwachsener mit orangener Warnweste und streckt ihm beide Arme entgegen.

Und ich dachte immer, dass du als individuell und einzigartig wahrgenommen werden willst. 

Hallo? Ich bin gerade gegen eine weithin sichtbare Autotür gelaufen - ist das nicht schon individuell und einzigartig genug? Wenn ich noch sehen könnte, würde ich natürlich individuell und einzigartig sein wollen, Herr Pädagoge. Aber so sorgt schon meine Behinderung für das Besondere – da stehe ich sowieso unfreiwillig immer im Rampenlicht. Ich will nicht mehr auffallen, will einfach nur in der Masse verschwinden – meine Behinderung stresst mich, du versteh'n?

Also, die Erde betreten, unsichtbar bleiben, keine Spuren hinterlassen und wieder verschwinden – so in etwa?

Nein, natürlich nicht. Ich will Beachtung und Anerkennung – wer will das denn nicht? Ich will mich dafür aber nicht verbiegen oder zum Affen machen müssen. Ist im Grunde doch eh egal, was ich mache, ich werde immer nur der Behinderte sein und am Gängelband der Bewertungen und Urteile der Sehenden hängen.

Jap, als Blinder als normal wahrgenommen zu werden, den Erwartungen der anderen zu entsprechen, das ist schon schwierig – das muss ich zugeben.

Naja, schwierig auf jeden Fall, - das „unmöglich“ spare ich mir. Was ich auch mache, ich bin und bleibe behindert und die anderen sehen in mir einen Behinderten. Behinderung ist ja nichts Positives. Ich bin kein Gleicher unter Gleichen, kann es wohl auch nicht werden. Also frage ich mich seit meiner Erblindung: „Was tun?“ Wie heißt es doch so schön: Mach was aus dir! Jeder kann es schaffen! Du bist deines Glückes Schmied!

Sowas sagen immer nur die ganz laut, die von vornherein die besten Startbedingungen hatten – die Gnade der günstigen Geburt. Jeder weiß, dass es keine Chancengleichheit gibt. Gleiche Chancen schaffen auch keine gerechteren Verhältnisse, dazu sind die Startbedingungen und Fähigkeiten einfach zu unterschiedlich.

Genau! Ich will und brauche keine Chancengleichheit. Was ich brauche, sind ein paar Privilegien, damit auch ich teilhaben kann!

Hoppla! Lass das bloß niemanden hören! Da kommt es nachher noch zu einer Neiddebatte: die Behinderten bekommen alles in den Arsch geblasen, oder so. Da könnte ja jeder Migrant kommen und auch einen privilegierten Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt fordern, weil er wegen Haarfarbe, Name oder Wohnort nicht die gleichen Chancen hat und überall diskriminiert wird. Aber in so einer Gesellschaft leben wir nicht – wir sind gelebte Hierarchie, gerade auch beruflich. 

Ich werde es schaffen – heute Tellerwäscher und morgen schaun ma mal! Ich mache im Sommer mein Abi, dann starte ich an der Uni durch und bekomme meinen Traumjob - die Eintrittskarte zu einem normalen Leben, so wie es alle Nichtbehinderten auch führen. 

Und wenn deine Rechnung nicht aufgeht? Wenn es mit dem Superjob nichts wird?

Du Schwarzmaler! Was erzählst du da? Ich strenge mich an und bekomme meinen Traumjob!

Davon gehe ich bei dir auch aus. Du brauchst für so manches zwar etwas mehr Zeit, bist nicht so mobil ohne Führerschein und keiner wird sich im Büro mit deinen Hilfsmitteln auskennen – aber du hast so viele andere Stärken, die das mehr als ausgleichen. Aber ein Zuckerschlecken wird das nicht.

Ich habe das Zeug für eine Karriere. Du wirst schon seh'n. Ich werde in die psychologische Forschung gehen, das ist mein Ding.

Respekt. Aber mach dich da auf einiges gefasst. Feste Stellen gibt es in diesen Bereichen kaum. Ein ehemaliger Schüler hat mir mal erzählt, dass er seine Sehbeeinträchtigung dort lange verheimlicht hat, denn er hatte Angst, dass seine Kollegen ihm sonst die Fähigkeit der eigenständigen, wissenschaftlich korrekten Forschung absprechen könnten und als Vorgesetzter nicht für ganz vollgenommen zu werden. Der wollte keinen Stress.

Und, hat es geklappt?

Solange ich noch Kontakt zu ihm hatte, hat es funktioniert. Aber er konnte auch noch ganz gut sehen. Bei dir is ja nix mit Heimlichtuerei. 

Heimlichtuerei – ein hoher Preis für den Traum einer für Sehende ganz normalen Karriere. Das mit dem Vertuschen wäre mir zu stressig.

Du packst das schon auch so! Ich denke nur, dass es nicht so werden wird, wie du es dir vorstellst – schon gar nicht so einfach. Geht doch schon damit los, dass man von Behinderten irgendwie Bescheidenheit erwartet. Ein Behinderter, der sich nicht fügt - eine selbstbestimmte, undankbare behinderte Person, die sich selbst Ziele setzt und deren Erreichen auch selbst bewertet, stellt eine Bedrohung dar, die man auch schon mal gerne scheitern sieht. Du wirst auf Barrieren und auf Widerstände stoßen, sehr viel häufiger als es bei Sehenden der Fall ist, und das wird an dir nagen, Tag für Tag. Also darfst du dich ruhig mal fragen, ob deine Lebensqualität durch den Versuch, den Weg der Sehenden zu gehen, irgendwie ihren Ansprüchen und Erwartungen zu entsprechen und zu genügen, für dich steigt – ob du das auch so willst. Und du solltest vielleicht auch einmal überlegen, was ein gutes Leben für dich wirklich bedeutet, statt dir einfältig ein möglichst „normales Leben“ zu wünschen, das so, wie du es dir vorstellst, vielleicht unerreichbar für dich sein wird.

Du meinst also, ich tue mir als behinderter Mensch nicht unbedingt einen Gefallen damit, wenn ich mit dem Verweis auf meine Leistungsfähigkeit in die Konkurrenz um Erwerbsarbeit eintrete?

Jain. Ein Versuch sollte es auf jeden Fall wert sein. Jeder geht ja mit seiner Behinderung und den daraus resultierenden Problemen anders um. Diese private Seite von Behinderung kann man nicht objektiv erfassen, dieses individuelle Erleben. Klar gibt es immer auch Kämpfer und Energiebündel, die in der Konkurrenz bestehen. Du hast ja genügend Nehmerqualitäten – sieht man ja gerade! 

Mmmh. Naja. Vielleicht. Mal sehen!  - Du sagst, ich sollte darüber nachdenken, was ein gutes Leben mit Behinderung für mich bedeutet, und dann schickst du mich immer zum Einkaufen für die gesamte Wohngruppe, obwohl du genau weißt, dass ich niemals alleine ohne Einkaufshilfe werde einkaufen gehen können und für das Ganze einen gefühlten halben Tag brauche. Gut, natürlich lerne ich dadurch das eine oder andere, aber im Grunde lässt du mich damit auf Verschleiß laufen – das steht meiner wissenschaftlichen Zukunft massiv im Wege. Ich versuche natürlich immer, der gute Behinderte zu sein, damit du als Profi zufrieden bist, aber ich will einfach auch mal mein Ding machen – mich erholen vom Schul- und Wegestress und soziale Kontakte knüpfen. Ich brauche mehr Zeit für alles – aber immer soll ich das tun und lernen, was andere für mich als wichtig erachten. Das ist doch Fremdbestimmung pur!

Harter Tobak, das. Willst du mir damit sagen, dass ich jetzt auch noch öfter für dich abwaschen soll, weil du durch fehlende Routine länger brauchst? Du weißt: Behinderung schützt nicht vor Bequemlichkeit und übertriebenem Anspruchsdenken. Klar, so kann man es auch definieren, das gute Leben mit Behinderung: Lass andere für dich schuften. Geh doch mal in die Schule und sag: Ich möchte jetzt nichts mehr lernen, es ist einfach genug. Bildung verschlingt einfach zu viel Zeit, die könnte ich für Besseres nutzen.

Nein, nein. Du weißt genau was ich meine! Ich bin hier nur aufgrund meiner Sehbehinderung. Das nimmt mir einen Teil meiner Freiheit und Selbstbestimmung, alles nur, weil ich nix sehe. Ich muss mich hier an alle möglichen Regeln halten, ein Leben führen, das ich als Sehender so nie führen würde – ich würde niemals auf die Idee kommen, für acht Leute einzukaufen oder zu kochen. Glaubst du nicht, dass in einer großen Institution das Individuum manchmal zu kurz kommt, nur weil Individualität die gewohnten Abläufe stören könnte? Hey, das haben wir schon immer so gemacht! Ihr Profis könnt eine ganz schöne Macht über uns Behinderte ausüben, bis hin zur Übergriffigkeit – aber alles immer nur zu unserem Besten, behauptet ihr jedenfalls. Denk mal darüber nach!

Aber du meinst jetzt nicht mich, oder?

Nein, nie im Leben. Ach egal, ich hab's! Schon mal was vom bedingungslosen Grundeinkommen gehört? Das Problem in unserer Gesellschaft ist doch, dass ohne eine kleine Hand voll Dollar ein gutes Leben nicht gelingen kann. Damit wäre der Druck draußen und ich müsste mich nicht nur auf Erwerbsarbeit konzentrieren, sondern könnte meine Projekte machen: im Chor singen, Musik machen. Und wenn ich Lust habe, mache ich eben Karriere, auch wenn die deiner Meinung nach mehr verspricht, als sie hält. So könnte ich mit meinen Einschränkungen in Frieden leben – weil ich vielleicht im Chor auf nette Leute treffe, für meine Musik Anerkennung finde und so mein Leben selbstbestimmt leben kann und es subjektiv als sinnvoll und befriedigend wahrnehme. Herz, was willst du mehr?

Ja, dieses Nichtmüssen müssen, das wäre schon toll. Und wer trotzdem will, der darf sich gerne in den hiesigen Sweatshops zur Arbeit verpflichten – tolle Vorstellung! Jedenfalls ist der Zeitpunkt, sich eine Fron zu suchen, im Moment nicht ganz schlecht. Alle Welt klagt über Fachkräftemangel und darüber, dass jetzt bald alle in Rente gehen. Da wird man dich Blindfisch doch irgendwo gut unterkriegen können. Die Tür steht also weit offen! - So, wir müssen mal mit dem Philosophieren Schluss machen. Deine Mitbewohner*innen bedürfen auch noch meiner Profession. Ich sag dir, diese wissenschaftlichen Abhandlungen - da brummt dir hinterher vielleicht der Schädel. 

Moment mal, du meinst, das sind jetzt gar nicht unsere Gedanken gewesen, sondern nur Gedanken aus einem Buch?

Jap, die meisten jedenfalls. Meinst du, ich kann mir das alles einfach so ausdenken? Und mal ganz ehrlich: Wer glaubt denn, dass ein 20-Jähriger zu solch komplexen Gedankengängen fähig ist? Ich hab's gelesen, also bin ich. Du hingegen bist reine Imagination.

Weißt du was, großer Pädagoge? Ich hatte von Anfang an so ein komisches Gefühl. Ich war aber zu blind, um die Zeichen zu erkennen – aber du hast mir ja jetzt die Augen geöffnet: Die Tür steht also weit offen! Haha! Es war also nicht zufällig die Tür deines Autos, gegen die ich geknallt bin?

Das wäre vielleicht ein Gag, was?