Winnies wunderbare Welt
Heute: Last Action Hero
Kapitel 1
Winfried Thiessen, pädagogischer Mitarbeiter im Internat | Aaron sprintet neben Pavlik durch die Gasse, die Hand an seinem Ellbogen. Laute Rufe nähern sich von der Rue des Berbèrbes – arabische Kommandos. „Fünf“, stößt er hervor. „Pistolen. Sonst niemand.“ Sie ziehen die Waffen. Pavlik weicht Hindernissen aus, Aaron folgt ihm wie auf Schienen. Schüsse schlagen in eine Mauer ein, Mörtel spritzt an ihre Wange. Beide drehen sich in vollem Lauf halb um und feuern. Aaron fächert Kugeln ins Nichts, hört einen klagenden Laut, vielleicht fünfzig Meter hinter ihnen. „Drei.“
Ein sanfter Stoß traf die Schulter von Max. Durch seine Kopfhörer vernahm er die verärgerte Stimme seiner Mutter: „Hörst du dir schon wieder diesen Mist an? Lass mal sehen! "Niemals" von Andreas Pflüger, soso! Dafür bist du doch noch viel zu jung.“ „Bin ich nicht!“ widersprach Max seiner Mutter vehement. „Ich will nach Marburg an die blista!“ „Fang bitte nicht schon wieder damit an!“ Die Stimme seiner Mutter entfernte sich langsam. „Du wirst hier doch toll inklusiv beschult, läuft doch alles super! Lauter Einser und Zweier! Und die Schule ist nur fünf Minuten entfernt.“ „Ist mir Wurst! Ich will zur fünften Klasse an die blista wechseln!“ „Lass uns morgen nochmal darüber reden. Es ist schon spät! Mach jetzt Schluss und leg dich endlich schlafen! Du kannst nicht den ganzen lieben langen Tag nur mit Lesen verbringen.“ Seine Mutter klang genervt und müde, aber das war Max sowas von egal. Er wollte Polizist in einer Spezialeinheit werden, so wie die blinde Polizistin Jenny Aaron und so wie sein Vater, der ihn und seine Mutter, als er gerade mal zwei Jahre alt war, verlassen hatte. Als er mit acht Jahren seinen Berufswunsch äußerte, lachte ihn sein Stiefvater aus und meinte: „Wenn du blind bist, kannst du kein Polizist werden, schon gar nicht in irgendeiner Eliteeinheit.“ Mit neun Jahren verschlang Max alle Bücher und Hörbücher über Blinde, derer er habhaft werden konnte. Vor allem die Krimis und Thriller aus den Buchtipps der blista-News hatten es ihm angetan. Manchmal wünschte er sich, so einen Vater wie Jenny Aaron zu haben. Sie hatte noch in der Wiege gelegen, als ihr Vater, Kommandant der GSG9 Spezialtruppe, bereits beschlossen hatte, dass seine Tochter Polizistin würde. Er hat der Zwölfjährigen eine Waffe in die Hand gedrückt und sie gedrillt, bis sie ihn mit der Pistole übertraf. Gut, zu diesem Zeitpunkt war sie noch nicht blind. Aber diese Förderung konnte er natürlich nicht erwarten – nicht von seinem Vater, nicht von seiner Mutter und schon gar nicht von seinem Stiefvater. Deshalb gab es nur eine Möglichkeit, sein Ziel zu erreichen: Er musste zunächst an die blista.
Max war umringt von Gegnern. Er spürte, wie ihre Baseballschläger bedrohlich die Luft zum Schwingen brachten. Sie waren zu viert. Er hatte nur einen knorrigen Ast, um sich zu verteidigen. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit hinein, stand breitbeinig da, ruhte in seiner Mitte. Neben ihm knackte plötzlich ein Zweig. Blitzschnell verlagerte Max sein Gewicht. Sein armdicker Ast schnellte nach links in Richtung des Geräuschs. Ein unterdrückter Schrei, dann sackte ein Körper zu Boden. Nummer eins hatte er also ausgeschaltet. Jetzt blieben nur noch drei übrig. Sie würden sich Zeichen geben, ihn solange umrunden, bis ihre Chance kam. Um sicherzugehen, dass sie außer Reichweite waren, drehte er sich einmal um die eigene Achse, schwang den Ast in Kopfhöhe im Kreis. Er hatte die Umdrehung fast vollendet, als ein Widerstand seinen Schwung abrupt unterbrach, begleitet von einem lauten Krachen, und ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte. Das Gewicht in seiner Hand hatte sich halbiert. Verdammt.
Seine Waffe war jetzt so gut wie nutzlos, zu kurz, abgebrochen. Und noch immer drei Gegner um ihn herum, die auf den richtigen Moment lauerten, um loszuschlagen. Die Situation war brenzlig, wenn nicht gar aussichtslos. Was würde Jenny Aaron in dieser Situation machen? Fliehen? Es war Tag und seine Gegner dadurch im Vorteil. Am besten wäre jetzt ...
„Max, aufwachen! Schule! Du hast verpennt…“ Max schnellte in seinem Bett hoch. Sein Kopf stieß gegen die Hüfte seiner Mutter. „Autsch! Passt doch etwas auf, Max.“ Gerettet. Keine Frage, er musste unbedingt an die blista. Dort wartete ein Judoverein für Blinde auf ihn. Auch gab es in Marburg ein Kampfsportzentrum, an dem bestimmt auch Blinde trainieren können, und einen Reitstall soll es dort auch geben. Nichts würde ihn aufhalten, schon gar nicht seine Mutter mit ihren Bedenken. Außerdem war sie doch selbst schuld. Sie war es doch gewesen, die ihm immer wieder von der Arbeit seines Vaters erzählt hatte, der in seinen Einsätzen oft sein Leben riskierte. Sein Beruf hätte ihr den letzten Nerv geraubt. Immer hätte sie mit der Angst gelebt, dass er nicht mehr lebend zurück nach Hause kommen könnte, erzählte sie in einem fort. Max konnte seine Mutter nicht verstehen. Einmal ist sein Vater sogar noch aufgetaucht, als Max an der integrativen Grundschule in der Nachbarschaft eingeschult wurde. Seine Mutter und er haben sich aber gleich wieder gestritten. Max hat es mitbekommen. Er war zwar blind, aber nicht taub. Es ging um irgendwas mit 45 3/2025 moppelig und falscher Ernährung, ihn nicht alles in sich hineinstopfen lassen. Keine Ahnung, was sein Vater damals damit meinte, er fühlte sich doch gut. Seine Mutter hat seinen Vater immer als sportlich und durchtrainiert beschrieben, eine Kampfmaschine in Uniform. So wollte er auch einmal werden und so wie Jenny Aaron, die blinde Polizistin. Und dazu musste er unbedingt an die blista. Er freute sich darauf, dort endlich wieder am Sportunterricht teilnehmen zu können – und er freute sich schon auf den Nachmittag, nach seinen Hausaufgaben, denn da wartete Jenny Aaron bereits auf ihn.
Kapitel 2
Max traute seinem Wohngruppenbetreuer Herrn W. nicht wirklich über den Weg. Judo, Kampfsportzentrum, Kletter- AG - Herr W. meldete ihn überall an, motivierte ihn auch an regnerischen Tagen, hinzugehen, wo er doch viel lieber im Bett liegen geblieben und gelesen hätte. Aber musste Herr W immer auf seiner Vorliebe für Nutella- Brote rumhacken? Sein Ziel, einmal Polizist in einer Spezialeinheit zu werden, würde Max ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden. Und ja, die Kletter-AG war ein Flop. Er schaffte nicht einmal die halbe Wand. Dafür kämpfte er im Judo mit nur dreizehn Jahren mit einigem Erfolg gegen viel ältere Gegner. Er hatte sich dafür entschieden, da sich in seiner Gewichtsklasse keine gleichaltrigen Gegner fanden. Auch im Kampfsportzentrum drückte er jeden Gegner auf die Matten, selbst wenn diese mehrere Jahre älter waren als er selber. Es ging also voran. Nächste Woche würde die Klicksonar- AG, die ein Mobilitätslehrer immer freitags anbot, beginnen. Er hatte viel über den Fledermausmann Daniel Kish gelesen. Als Blinder Fahrradfahren, das war auch sein Ziel. Nur nach Gehör sich sicher durch Raum und Zeit bewegen, so wie Jenny Aaron. Später, wenn er erstmal volljährig sein würde, würde er dem blinden Rennfahrer, über den er auch einige Berichte ausgegraben hatte, nacheifern. Aber das hatte ja noch etwas Zeit. Erst einmal würde er jetzt zum Fledermausmann werden. Aber was meinte Herr W nur mit Bücherwurm?
Autsch! Das tat weh! Seine Wange begann zu glühen. „Lang ruhig kräftig zu,“ hatte er Steffen, seinen Sparringspartner, aufgefordert und Steffen hat sich nicht lumpen lassen, so eine Gelegenheit bekommt man schließlich nicht jeden Tag. Max hat die Hand einfach nicht kommen hören! Die Ohrfeige hatte wirklich gesessen. Jetzt hatte er auch noch ein leichtes Pfeifen im rechten Ohr. Das hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt, blind und taub. Er machte einfach zu langsam Fortschritte. Dabei hatte er sich das Buch vom Fledermausmann Daniel Kish schon zweimal durchgelesen. Alle Infos eingeholt, derer er habhaft werden konnte, und zehn Einheiten Klick-Echoortung, die der Mobilitätslehrer der blista angeboten hatte, erfolgreich absolviert. Er bekam Zweifel, ob er das Niveau von Jenny Aaron je erreichen würde. „O.K. Steffen, wir probieren es nochmal, aber diesmal die andere Seite.“ „Wirklich?“ „Ja, mach…!“
Kapitel 3
„Hallo Max! Ich bin es, Herr W. Das war ja gerade eine anregende Lesung.“ „Herr W., schön, dich hier zu sehen, damit habe ich als Allerletztes gerechnet. Wieder auf der Suche nach Büchern für deine Buchtipps in den blistaNews?“ „Aber klar, wenn so ein berühmter Jugendbuchautor schon mal im Lande ist, dann muss ich meine Chance doch nutzen. Wie ich sehe, entsagst du den Nutella-Broten immer noch nicht.“ „Hab ich aufgegeben. Ein kleines Laster muss man schließlich haben. Und wie du immer zu sagen pflegtest: Dicke Kinder sind schwerer zu entführen. Hat dir der dritte Band um meinen jungen blinden Detektiv eigentlich gefallen?“ „Ja, sehr sogar. Gute Jugendbücher lese ich eigentlich am liebsten, die sind so – ich meine, da ist die Welt noch aufregend und voller Abenteuer. Aber was ich mich frage: Am Ende des Bandes gerät er in eine Falle, eine aussichtslose Situation, drei Gegner sind noch übrig. Wie kommt er da nur wieder raus? Ist doch nahezu unmöglich. Ich dachte, du willst noch einen vierten Band rausbringen? Verrat mir doch mal, wie es nach dem Cliffhanger weitergeht …“ „Nur, wenn du es für dich behältst … seine Mutter eilt ihm zur Hilfe.“ „Seine Mutter?“ „Ja, sie weckt ihn… er hat das alles nur geträumt!“
„Der ganze dritte Band ist nur ein Traum? Da fühl´ ich mich jetzt aber etwas verarscht …“ „Ist es dir nicht merkwürdig vorgekommen, dass mein Held auf einmal so viele Kampferfahrungen hatte, sich wie eine Katze bewegte?“ „Aber du hast doch geschrieben, dass er wie ein Besessener trainiert hat!“ „Ich glaub's nicht! Du solltest vielleicht nicht so viele Bücher über Blinde lesen und besprechen, das meiste davon ist Fiktion oder übertriebene Selbstdarstellung – schau mich an und mache dir endlich mal ein realistisches Bild!“