Buchtipps
Die Nacht der Schildkröten
Jugendbuch – Greta Olivo
Livia lebt mit ihrer Familie in Rom. Sie ist eine gute Läuferin, nimmt an Wettkämpfen teil und hat eine beste Freundin.
Zu Beginn der Grundschulzeit wird bei ihr eine frühe Kurzsichtigkeit festgestellt.
Seitdem trägt sie eine Brille mit dicken Gläsern, die sie am liebsten wieder loswerden möchte, nicht nur weil die Brille sie beim Sport behindert. Vor dem Start in eine Kinderfreizeit am Meer lässt Livia ein Paar Kontaktlinsen im Bad der Mutter ihrer Freundin mitgehen. Gut sehen und gesehen werden, aber nur nicht auffallen, einfach nur dazu gehören, dafür riskiert Livia einiges. Beim namensgebenden „Schlüsselereignis“ des Romans, einem gemeinsamen Ausflug in der Nacht zu einem Strand, beobachten die Kinder das Schlüpfen von kleinen Meeresschildkröten.
Obwohl strengstens verboten, schnappt sich Livia eine der kleinen Schildkröten, die ihren Weg zum Meer, dem Ort ihrer Bestimmung, nicht zu finden scheint. Livias junger Begleiter weist sie auf den Fauxpas hin und wirft das kleine Wesen kurzerhand ins schwarze Wasser. Die unsachgemäße Handhabung der Kontaktlinsen auf diesem Ausflug führt kurz darauf zu einer schlimmen Augenentzündung. Das Ferienlager ist damit für die 11-Jährige vorbei. Bei der sich anschließenden Augenbehandlung wird bei Livia Retinitis pigmentosa diagnostiziert, eine Augenkrankheit, von der auch ihr Großvater betroffen war, und der im Alter „stockblind“ wurde.
Mittlerweile ist Livia 15 Jahre, geht auf Partys, flirtet mit Jungs und tut immer noch alles dafür, ihre Sehbehinderung zu verheimlichen und zu verschleiern, auch wenn sie mittlerweile völlig nachtblind ist. Klar, dass dabei so einiges schiefgeht. Aber sollen die anderen ruhig denken, was sie wollen. Hauptsache sie bekommen nichts von Livias Sehbehinderung mit.
Eingeweiht sind nur wenige Personen in ihrem Umfeld. Unterstützung erhält sie vor allem durch ihre Eltern. Trotz der eigenen Ängste und Bedenken versuchen sie Livia einfach laufenzulassen und ihre Unabhängigkeit zu fördern. Und da ist auch noch ihr Tutor aus dem Blindeninstitut, der Livia auf ein Leben in Dunkelheit vorzubereiten versucht.
Die Autorin Greta Olivo zeichnet zurückgenommen und ziemlich realistisch den steinigen Weg, den Livia alleine zu gehen hat eben wie die kleinen Meeresschildkröten, die ihren Weg ins Meer irgendwie selber finden müssen, ohne ihr Ziel zu kennen und ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Aber eine Abkürzung, einen großen Wurf, wie bei Livias verirrter Meeresschildkröte in der Nacht ihres Ausfluges, wird es bei ihr nicht geben. Stattdessen warten auf sie viele kleine tastende und suchende Schritte in eine, ihr unbekannte, noch nicht geschriebene Zukunft, in der die Dunkelheit sie wahrscheinlich umhüllen wird.
Ein Jugendroman zum Thema Sehbehinderung, der sich wirklich zu lesen lohnt.
Realistisch und unaufgeregt erzählt Greta Olivo von einem Mädchen, das kurz vor ihrer Pubertät erfährt, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft völlig erblinden könnte. Ein Jugendbuch, das ohne die verklärende rosa-rote Brille der ersten großen Liebe, ohne den großen Zauber, ohne den großen Wurf auskommt.
Der blinde Lehrer
Roman – Alessandro D´Avenia
Zunächst die harten Fakten. Omer Romeo ist Lehrer und erblindet mit 40, was ihn zu einer Auszeit von seinem Job zwingt. Mit 45 beschließt er, es erneut als Lehrkraft zu versuchen. Er wird als Vertretungslehrer für Naturwissenschaften in eine römische Schule berufen und bekommt eine Klasse mit 10 Schüler*innen zugeteilt, die ein Jahr vor dem Abitur stehen. Seine Schüler*innen gelten alle als hoffnungslose Fälle, als widerspenstige Looser. Um als blinder Lehrer sicherzustellen, dass alle seine Schüler*innen auch anwesend sind, zitiert er sie zu sich und befühlt ihre Gesichter mit seinen Fingern, fragt sie nach ihren Namen und ihrem Befinden. So erfährt er von ihnen, dass all diese jungen Menschen eine ganz eigene tragische Geschichte besitzen, die ihnen den Schulunterricht als weniger wichtig erscheinen lässt. Er geht auf sie ein und fragt nach.
So schafft er es, dass die Kids mit Begeisterung seinem Unterricht folgen. Als Omers Schüler*innen fordern, dass auch alle anderen Lehrer*innen Omers Unterrichtsmethode, die sie den „Apell“ nennen, nutzen sollen, eskaliert das Ganze langsam. Ein Lehrer, der seinen Schülern im Gesicht rumfummelt, der sich für ihre Probleme, Nöte und Sorgen interessiert, sich für sie Zeit nimmt, passt eben nicht in den Schulbetrieb und auch die meisten seiner Kolleg*innen stellen sich gegen Omer und seine Klasse. Angepriesen wird der Roman auf dem Cover mit: Die italienische Antwort auf „Der Club der toten Dichter“.
Die italienische Zeitung IL VENERDI DI REPUBLICA schreibt: „Über die Notwendigkeit, die Schule als Institution zu verbessern.“ Jetzt ist es so, dass ich gar nicht weiß, wo ich mit meiner Kritik an diesem Roman anfangen bzw. aufhören soll. Da ist zunächst dieser 400-seitige philosophische Tsunami, ein sintflutartiger Gedankenbrei.
Ein Gedanke ploppt auf und sofort wird er vom nächsten abgelöst, ein nicht enden wollendes Geplapper. Mir fehlt ein Mindestmaß an analytischer Gesellschafts- und Schulkritik, eine Prise Realismus hätte dem Roman sicher nicht geschadet. Es wird auf Teufel komm heraus nach dem Schrotgewehrprinzip herumphilosophiert: irgendwas wird schon (zu) treffen, die Leser*innen ansprechen. Der Roman ist einfach zu wenig geerdet. Ein wirres philosophisches Gedankenwolkenkuckucksheim.
Bin ich ungnädig? Aber hallo! Für dieses seitenlange Geschwurbel fehlt mir mittlerweile einfach die Aufmerksamkeit und Geduld, schließlich lebe ich nicht ewig.
Dann noch diese altklugen Schüler*innen.
Der Direktor, der Bildungsminister – sie alle gleichen einer Karikatur. Sonst würde der Roman auch so nicht funktionieren, mit einem Erzählstil, der so gestrickt ist, dass er möglichst viel philosophisches Allerlei in möglichst wenig Handlung unterbringt. Positiv zu vermerken ist die humanistische Botschaft des Romans mit seinem traurigen Happy End. Aber auch das wird gleich wieder in einem schwülstigen Pathos ersoffen. So! Konnte man herauslesen, dass ich dem Roman nicht allzu viel abgewinnen konnte?