Menschen: Wenn aus Hobby Berufung wird

Portrait von Judith Weninger, die blonde Frau lacht zu den Betrachtenden hin. Eine Sonnenbrille steckt in dem zurückgebundenen Haar.

Judith Weninger

Thorsten Büchner * | Wenn Judith Weninger über den blista-Campus läuft, dann passiert es relativ oft, dass Kolleginnen und Kollegen ins Grübeln geraten. „Die Leute wissen am Anfang manchmal nicht, wie sie mich einsortieren sollen“, sagt die ausgebildete Ergotherapeutin. „Oft höre ich dann den Satz: Mensch Judith, ohne deine Reitklamotten hab ich dich gar nicht erkannt“, lacht Weninger. Seit sechs Jahren arbeitet Judith Weninger in der blista-eigenen Reitanlage im Marburger Stadtteil Wehrda. „Daher bin ich eher selten hier auf dem Campus unterwegs.“

Die Liebe zu den großen Vierbeinern hat Weninger schon seit ihrer Kindheit. Früh war ihr klar, dass sie gerne mit Menschen mit Behinderungen arbeiten und dabei die therapeutischen Wirkungen der Pferde nutzen möchte. „Eine ideale Voraussetzung für meine heutige Tätigkeit als Reittherapeutin war da die Ausbildung zur Ergotherapeutin.“ Der handlungsorientierte Ansatz der Ergotherapie, verbunden mit physiologischen und medizinischen Kenntnissen, ermögliche es ihr heute beim Reiten „einen möglichst ganzheitlichen Ansatz“ zu verfolgen.

Insgesamt können Weninger und ihre drei männlichen Kollegen sieben Pferde für die Reitstunden, die sie nicht nur mit den sehbehinderten und blinden blista-Schülerinnen und -Schülern durchführen, nutzen. „Sechs davon sind echte blista-Pferde, das siebte Pferd gehört zwar nicht uns, aber es gehört schon seit fast fünfzehn Jahren zu unserem Team.“ Ganz am Anfang, in der Jahrgangsstufe 5, werden die blista-Schüler Stück für Stück ans Thema Reiten und an die großen Pferde herangeführt. „Wir haben zwei Pferdemodelle aus Holz und Kunststoff, die in Originalgröße und in Originalmaßen dargestellt sind. So können die Kids in der ersten Stunde erstmal alles in Ruhe anfassen um überhaupt zu wissen, wie so ein Pferd aussieht.“ Mitunter dauert es mehrere Stunden, bis die neugierigen Reitschüler sich zum ersten Mal auf den Rücken eines Pferdes schwingen. „Wir intensivieren den Kontakt allmählich, Stück für Stück. Wir machen Übungen und Spiele mit den Kids und den Pferden, so dass sie sich langsam aneinander gewöhnen.“

Dabei achtet Weninger auch darauf, dass die „eher zurückhaltenden Schülerinnen und Schüler“ ein besonders sensibles und achtsames Pferd erhalten. Pferde spürten durchaus, ob der Reiter, die Reiterin selbstbewusst oder unsicher auftritt oder sich entsprechend verhält. „Wir achten bei der Auswahl unserer Pferde natürlich besonders darauf, dass wir geduldige, freundliche Tiere aussuchen. Aber so ein, zwei temperamentvollere Pferde sollten auch immer dabei sein, damit die Mischung stimmt.“ Im Reitunterricht geht es zunächst darum, durch Bewegungserfahrung einen losgelassenen Sitz in den drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp zu erlangen, später um die Einwirkung aufs Pferd, für den Laien „das Pferd lenken lernen“. Das meiste geschehe per Gewichtsverlagerung, erklärt Weninger. Aber auch durch sanften Druck der Waden oder die Zügel könne man die Tiere in die gewünschte Richtung dirigieren. Aber auch die Pflege und Grundbedürfnisse der Pferde stellen einen wesentlichen Bestandteil der Reitstunden dar. Bei der Betreuung der blinden und sehbehinderten Reitschüler arbeitet Weninger mit studentischen Hilfskräften zusammen, so dass es stets eine 1:1-Betreuung gibt. „Eine gute Gruppengröße sind acht Kinder und Jugendliche. Vier sind auf und am Pferd, die anderen vier beschäftigen sich entweder im Stall oder in unserem Seminarraum.“

Neben dem obligatorischen Reitunterricht in der Jahrgangsstufe 5 gibt es für die blista-Schüler die Möglichkeit – gerne auch über die gesamte blista-Zeit hinweg – an einer Reit-AG teilzunehmen. Außerdem gibt es in der Oberstufe einen entsprechenden Reitkurs.

Seit mehreren Jahren arbeitet Judith Weninger aber hauptsächlich mit anderen Reit-schülerinnen und Reitschülern zusammen. „Die blista hat vor ein paar Jahren damit be-gonnen, ihre Reitanlage für andere Schulen und Gruppen zu öffnen.“ Neben privaten Reitschülern jeglichen Alters unterrichtet und begleitet Weninger beispielsweise auch Gruppen der Marburger Erich-Kästner-Schule, die von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Handicaps besucht wird. Weitere Gruppen, die in Wehrda auf blista-Pferden reiten, kommen aus den Vitos-Kliniken oder anderen Marburger Einrichtungen.

Dort erlebe ich ganz oft, welche Wirkung das Reiten und die Pferde haben können.“ Dadurch, dass beim Reiten dreidimensionale Bewegungen ausgeführt werden, können Menschen mit einer Spastik ihre Muskeln an- oder entspannen, je nachdem was das jeweilige Krankheitsbild erfordert, und den Muskeltonus verbessern. „So entstehen ganz tolle Situationen. Ich hatte einen jungen Reitschüler, der, als er anfing, eigentlich nur auf dem Pferd liegen konnte. Mittlerweile, durch zweijähriges Training, kann er sich eigenständig, sitzend, auf dem Pferd halten“, beschreibt Weninger die Erfolgserlebnisse ihrer Arbeit.

Momentan betreut Weninger insgesamt 60 externe Reitschülerinnen und Reitschüler. Besonders wichtig ist ihr, dass die sieben Pferde, neben ihrer täglichen therapeutischen oder reitpädagogischen Arbeit, „auch mal richtig reiterlich gefordert werden“. Deswegen hat sich Weninger mit ihren Kollegen dafür eingesetzt, dass die blista-Pferde am Wochenende von erfahrenen Reitern zu langen Ausritten , „wo sie auch mal richtig galoppieren können“, mitgenommen werden. „Das merke ich montags gleich, dass unsere Tiere dann viel ausgeglichener und entspannter sind.“

Privat verbringt Judith Weninger auch einen Großteil ihrer Zeit im Reitstall. „Zusammen mit meiner Familie und meinem Hund bin ich, wenn ich nicht gerade in der Natur unterwegs bin, oft in dem Reitstall bei meinem Pferd.“ Einer ihrer schönsten Ausflüge auf dem Rücken eines Pferdes war ein Tagesritt im Burgwald. „Das ist gar nicht weit von Marburg entfernt. Wir sind dort durch die Franzosenwiesen geritten. Sechs Mädels auf ihren Pferden. Das war ein toller Junggesellinnenabschied.“ Gerne würde Weninger einmal ein Pferd von klein auf großziehen. „Ein junges Pferd von Beginn an ausbilden und mit ihm arbeiten, das wäre ein Traum“, gibt die begeisterte Reiterin zu. In den nächsten Monaten wird das aber wohl nichts werden. Ab Sommer verabschiedet sich Judith Weninger erstmal von ihren Reitschülern und den blista-Pferden. Dann beginnt ihre zweite Babypause.
[*Öffentlichkeitsarbeit; Foto: privat]