Inklusionsvorbereitung durch Kunst

Der Ausschnitt aus einer Japanischen Zeitung zeigt den Artikel zu der Veranstaltung

Kunstlehrerin der blista wird nach Japan eingeladen

Weltweit wird die Idee einer inklusiven Gesellschaft vorangetrieben – so auch in Japan. Ein besonderer Impuls geht von den im nächsten Jahr dort stattfindenden Paralympics aus. Sportler aus aller Welt werden zu Gast sein. Da ist es eine Selbstverständlichkeit in Japan, sich zuvor gut vorbereitet mit den besonderen Bedingungen der Athleten vertraut zu machen.

Schwerindustrie und zeitgenössische Kunst im Öffentlichen Raum – dies beschreibt das Profil der 120.000 Einwohner zählende Stadt Ube, die im Süden der Haupinsel Honshu liegt und eine Gastgeberstadt der Paralympics sein wird. Ube – Marburg, hier besteht seit 12 Jahren eine Verbindung in der Person des Künstlers und ehemaligen Kunstpädagogen der blista, Hans Schohl, der mehrmaliger Preisträger der Ube-Biennale für zeitgenössische kinetische Kunst ist. Viele Besuche aus beiden Richtungen bestätigen dies.

Ulrike Schönhagen mit Schüler in Japan

Im Sommer 2018 hat die Bürgermeisterin Ubes, Frau Kubota, in Begleitung einer größeren Delegation den Kontakt zur blista zum Anlass genommen, sich persönlich über Kunstvermittlung bei blinden Menschen zu informieren. Welche Ziele und Methoden verfolgt werden, welche Materialien und Hilfsmittel zur Verfügung stehen – der beispielhaften Präsentation folgte wenige Wochen später eine Einladung an Ulrike Schönhagen, die seit vielen Jahren als Kunstlehrerin der CSS das spezifische Konzept dieses Kunstunterrichts mit entwickelt hat. Sie wurde eingeladen nach Ube zu kommen, dort exemplarisch mit japanischen Schülern unter Verzicht auf optische Wahrnehmung zu arbeiten und damit einen Beitrag im Rahmen eines Kongresses zu leisten, der organisiert durch die Ube-Biennale stattfinden sollte, um der Öffentlichkeit das Thema Inklusion an verschiedenen Beispielen vorzustellen.

Nach 14stündiger Reise, im Gepäck 22 kg Knetwachs und Handdruck-Zubehör wurde der Marburger Expertin von der Stadtverwaltung und Leitung der Ube-Biennale ein herzliches Willkommen bereitet. Austausch von Visitenkarten, vielfältiges höfliches Verbeugen, zuvorkommende Unterstützung bei allen Wegen und Fragen – in dem Land, dessen Schriftzeichen sowenig bekannt sind wie die allgegenwärtigen ritualisierten Umgangsformen, wurden die Barrieren für die deutsche Lehrerin von den japanischen Gastgebern so niedrig wie möglich gehalten.

Ein Präsentationstisch zeigt die entstandenen Schülerarbeiten

An drei verschiedenen Schulen, mit Schülern zwischen 9 und 14 Jahren, waren Workshops organisiert. Auch hier die Begegnung mit respektvollen, sehr disziplinierten Formen, Ritualen, wie das Aufstehen, Verbeugen, ja sogar Meditation vor Beginn des Unterrichts, Schuluniformen, Hausschuhe. Das mit der Kuratorin abgesprochene Ziel war: über künstlerisches Handeln einen Einblick in die Lebens-und Arbeitswelt eines blinden Menschen ermöglichen.

Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten die japanischen Schüler zunächst die mit Bildern unterstützen Informationen über das weitgehend selbstorganisierte Leben der älteren Schüler im Internat der blista, die Arbeitsmöglichkeit mit einer Braille-Zeile, die sportlichen Möglichkeiten und Erfolge.

In einer als Experiment angekündigten Praxisphase unter der Augenbinde fand dann Kunstunterricht statt. Wie erlebe ich mich und meine Umwelt, wenn ich nicht sehen kann, welche Vorstellungen entstehen, wie kann ich den Vorstellungen eine Form geben und mich damit mitteilen?

Im Konzept des Kunstunterrichts an der CSS ist die künstlerische Arbeit immer verknüpft mit einer inhaltlichen Fragestellung, über die mit passenden Materialien in einer angemessenen Form eine Mitteilung erfolgt. Hier sollte es um gefräßiges, sich nicht mäßigendes Verhalten gehen – ein Thema, das auch in der heutigen Zeit durchaus bedeutsam ist und sich im Wolf der Grimm’schen Märchen wiederfindet. Diese sind in Japan hoch geschätzt. Auch die Kinder und Jugendlichen der Workshops kannten die Figur in dem Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“.

Mit Wachsknete entstanden die unterschiedlichsten fettgefressenen, schlafenden Wölfe, ohne optische Kontrolle unter der Augenbinde. Langsam, sich das imaginierte Bild zunächst bewusst machend, wurden die Augenbinden von den japanischen Schülerinnen und Schülern abgenommen – die ­darauf folgenden ungewohnt lauten, ausgelassenen Reaktionen zeigten deutlich die Überraschung über die blind modellierten Formen. Die taktile Form entsprach nicht der Erwartung an die optische Erscheinung, hatte gleichwohl aber einen eigenen, inhaltlich nachvollziehbaren, ästhetischen Reiz. Das Experiment hatte Erfolg. Die Schüler hatten Besonderheiten des taktilen Arbeitens erlebt und konnten sich über die persönliche Erfahrung und die vor ihnen liegenden Ergebnisse austauschen.

Welche Herausforderungen auf einen blinden Menschen in einer von zweidimensionalen Abbildungen dominierten Welt zukommen, konnten die älteren Schüler einer Junior High School überprüfen. In einem weiteren Modul des Workshops verformten sie zwei der Knetfiguren so, dass eine zu druckende Fläche entstand, die die Silhouette des Wolfes zeigte. Eher rätselhafte schwarze Flächen hinterließ der Druck auf dem Papier und benötigte weitere Erläuterung, um erkennbar zu sein, diesmal nicht mit Sprache, sondern einer ergänzenden Zeichnung. Ins Sichtbare übersetzt wurde so das schwierige Phänomen von Abbildungen für blinde Schüler: ohne eine weitere Erläuterung bleiben sie oft rätselhaft, entwickeln eigene nicht immer beabsichtigte Informationen. Nach 5 Stunden intensiver gemeinsamer Arbeit verabschiedete sich diese Schülergruppe mit einem deutschen Lied als Dank für das ungewöhnliche schulische Lernen von Ulrike Schönhagen.

Seit Februar 2019 sind die entstandenen Arbeiten, eine Informationstafel zu den Workshops mit den japanischen Schülern und weitere Beispiele taktiler Medien des Kunstunterrichts der blista, zum Beispiel des Holzschnittes von Otto Ubbelohde zum Märchen „der Wolf und die sieben Geißlein“ in den Ausstellungsräumen der UBE-Biennale zu sehen.
[Fotos: privat]