Wie aus Punktebrei Buchstaben und aus Buchstaben Wörter werden

Punktschriftunterricht in der Blindentechnischen Grundrehabilitation

von Isabella Brawata | Seit Oktober vergangenen Jahres unterrichte ich als Krankheitsvertretung Menschen in Punktschrift, die an der blista eine Blindentechnische Grundrehabilitation machen. Bei den Rehabilitand*innen handelt es sich um Menschen, die im Laufe ihres Lebens ihre Sehkraft schleichend oder plötzlich verloren haben. Der Sehverlust ist so weit fortgeschritten, dass sie blindenspezifische Arbeitstechniken erwerben müssen. Viele arbeiten mit Mischtechniken, lernen also, sowohl mit einer Sprachausgabe, an einer Braillezeile als auch mit einer Bildschirmvergrößerung am Computer zu arbeiten.

Das Foto zeigt ein liegendes Blatt Papier mit Punktschrift im Vordergrund, der Hintergrund verschwimmt

Veranschaulichung der Brailleschrift

Ganz zu Beginn lernen sie die „Punkteeier“ kennen, die in verschiedenen „Zimmern“ auf drei „Stockwerken“ im Sechsereierkarton wohnen. Links „hausen“ die Eier bzw. Punkte eins bis drei auf drei Etagen, rechts die Punkte vier bis sechs ebenfalls auf drei Stockwerken untereinander. Punkt eins ist oben links, Punkt sechs unten rechts untergebracht. Jeder Buchstabe und jedes Satzzeichen setzen sich aus einem oder mehreren unterschiedlichen Punkten zusammen. Das I besteht beispielsweise aus den Punkten 2, 4, belegt also die „Zimmer“, die mitte links und rechts oben liegen. Das O besteht aus der Punktmischung 1, 3, 5 und die für das O zuständigen Punkte sind oben und unten links sowie mitte rechts daheim.

Schreiben mit der Punktschriftmaschine

Anschließend erkläre ich die Punktschriftmaschine und die Teilnehmenden schreiben Punktkombinationen. Das ist gar nicht so einfach, denn um einen Buchstaben zu tippen, muss man die für ihn benötigten Tasten gleichzeitig herunterdrücken. Schnell entsteht ein Kuddelmuddel. Braucht man für den Punkt 1 den rechten oder linken Zeigefinger oder vielleicht doch einen der beiden Ringfinger?

Herrmann Sprigade liest Braille von einem Papier; im Vordergrund sieht man eine Punktschriftmaschine.

Vielfältige Lebenswege und Lernvoraussetzungen

Aber das war erst die „Aufwärmphase“, denn anschließend bekommen die Teilnehmenden einen dicken Ordner ausgehändigt; ein Skript, das sie die nächsten Wochen über begleiten wird und mit dessen Hilfe sie die Buchstaben erlernen werden. Und hier beginnt die eigentliche Herausforderung, denn nun muss der Tastsinn geschult und Buchstaben müssen gepaukt werden.

Janjira Krätschmer beim Punktschriftlesen

Der Punktschriftunterricht findet in der Regel in Kleingruppen statt. Das macht jeden Punktschriftkurs für alle Beteiligten spannend, aber auch manchmal zu einer Herausforderung, denn es treffen Menschen mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen aufeinander. Jugendliche, junge Erwachsene, Menschen im mittleren Alter und Teilnehmende, die kurz vor dem Renteneintrittsalter stehen. Auch die Bildungs- und Berufsbiografien sind total verschieden. Schüler*innen, Arbeitssuchende, Studierende aller Fachrichtungen, Frühverrentete, Auszubildende aller Lehrgänge, Hausfrauen und –männer, Berufstätige aus allen Bereichen.

Die Teilnehmenden bringen jeweils andere Lernerfahrungen mit. Manchen fällt das Lernen leicht, andere tun sich schwer damit. Da im Punktschriftunterricht ein wenig geschrieben, aber vor allem gelesen, gelesen und nochmal gelesen wird, sind Menschen mit einer guten Sprach- und Lesekompetenz im Vorteil. Konzentrationsfähigkeit, Motivation, Frustrationstoleranz, Ausdauer spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Sainab Zhour liest mit den Fingern von einem Blatt ab.

Anstrengende Schulung des Tastsinns

Denn das Erlernen der Brailleschrift ist, gerade zu Beginn des Kurses, eine echte Tortur. Es ist sehr mühsam und verlangt den Lernwilligen viel ab.

Das Skript kommt ganz harmlos daher. Es besteht aus Lerneinheiten von meist fünf Zeichen (Buchstaben, Satzzeichen, den Umlauten mit ß und später den Lautkürzungen der Blindenvollschrift), die erst einzeln, dann blockweise, später wort- und satzweise gelesen werden müssen. Spätestens, wenn mehrere zusammenstehende Buchstaben ertastet werden müssen, sind entsetzte Ausrufe zu hören: „Ich kann nichts erkennen!“, „Ich fühle da nur Punktebrei!“, „Die Punkte fließen alle ineinander! Ich merke gar nicht, wo ein Buchstabe aufhört und wo der neue beginnt!“.

Ich gebe den Teilnehmenden den Tipp, dass man leichter fühlen kann, wenn der Lesefinger nicht still liegt, sondern sich beim Lesen bewegt und verspreche ihnen hoch und heilig, dass sich ihr Tastsinn mit zunehmender Übung schärfen wird.

Auswirkung des Sehverlustes auf den Unterricht

Es gibt einen Kursteilnehmer, der unsichtbar ist, stets im Hintergrund lauert, sich manchmal in den hintersten Winkel zurückzieht, manchmal mit voller Wucht in den Vordergrund drängt und der in vielerlei Gestalt zum Vorschein kommt: der Sehverlust.
Hier an der blista sind Blindheit und Sehbehinderung so alltäglich, dass wir vielleicht manchmal vergessen, dass ein Sehverlust, unabhängig davon, ob er plötzlich oder schleichend auftritt, ob man davor schon sehbehindert war oder nicht, die Welt der Betroffenen zum Einsturz bringt und ihnen den Boden unter den Füßen wegreißt. Denn ein Sehverlust wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus.

Nichts ist mehr so, wie es war. Das macht sich, mal mehr, mal weniger, auch im Unterricht bemerkbar. Manchmal unterschwellig, indem Teilnehmer*innen, die völlig verunsichert und von Selbstzweifeln überwältigt sind, eine besonders starke Ermutigung brauchen.

Manche Teilnehmenden haben riesige Zukunftsängste und setzen sich daher unter einen sehr großen Erfolgsdruck.  Ich versuche, die Situation zu entspannen und klarzumachen, dass Leistungsstress das Lernen behindert.
Bei manchen spüre ich eine unterdrückte Wut oder tiefe Verzweiflung. Und manchmal müssen sich die Rehabilitand*innen einfach aussprechen. Sie bedauern, dass sie nicht mehr Autofahren können, klagen darüber, dass die Familie mit ihrer Sehbehinderung oder Blindheit nicht zurechtkommt, sind frustriert, dass ihre Suche nach einem Ausbildungsplatz erfolglos bleibt. Ich fühle mich dann oft hilflos, weil ich, außer mit einigen aufmunternden Worten, die selbst in meinen eigenen Ohren irgendwie hohl klingen, nichts tun kann. Viele Schicksale gehen mir auch sehr nahe. Wenn Menschen durch ein Verbrechen, einen Ärztefehler, einen schlimmen Unfall oder aufgrund einer schweren Erkrankung erblindet sind, nimmt mich das mit. Und ich befinde mich in einem ständigen Konflikt. Einerseits möchte ich den Betroffenen, ihrem Frust, ihrer Wut, ihrer Angst und Verzweiflung Raum geben. Andererseits bin ich Punktschriftlehrerin und meine Aufgabe ist es, den Leuten die Brailleschrift zu   vermitteln. Ich muss also recht bald wieder zur „Tagesordnung“ zurückkehren.

Fee Schröder liest Punktschrift.

Lernerfolge und Glücksgefühle

Es gibt auch richtig schöne Kurstage, an denen die Teilnehmer*innen fröhlich und gelöst sind, miteinander lachen und scherzen, sich gegenseitig stützen, an denen der Sehverlust die Teilnehmenden eint, weil sie alle wissen, dass sie ein ähnliches Schicksal teilen und sich gegenseitig Kraft und Zuversicht schenken können.
Ganz glücklich bin ich, wenn die Teilnehmenden mir erste kleine und große Erfolge vermelden: „Ich freue mich so! Ich fühle endlich Buchstaben und nicht mehr nur „Knubbelhaufen!“ „Ich habe einen ganzen Brief fehlerfrei geschrieben!“, „Ich habe das Wort 'Stopp' im Bus gelesen!“.

Kontakt zur Blindentechnischen Grundrehabilitation an der blista:

Dipl.-Psych. Annette Stelker
blistaCampus, Am Schlag, 35037 Marburg
Telefon: 06421 606-195,  E-Mail: stelker@blista.de, Internet: www.blista.de/btg