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Drei Betreuende strecken den Betrachtenden fraundlich lächelnd Sektgläser entgegen: Ein Text lautet: Das B Team ... auf Dich!

heute: Deine erste Anreise nach den Sommerferien

 

von Winfried Thiessen

E-Mail für Dich

Hallo Herr W,
gerne schreibe ich einen Artikel für die blista-News. Bin seit einigen Monaten mit dem Studium der Sozialen Arbeit durch und habe auch einen interessanten Job gefunden. Näheres wirst du aus meinem Bericht erfahren. Ich hoffe, die WG in der Biegenstraße steht noch und deine Jugendlichen haben dich noch nicht völlig in den Wahnsinn getrieben :-) Bis wann soll der Artikel eigentlich fertig sein und wie viele Seiten soll er haben?
Schöne Grüße
Rafael

Hallo Rafael,
du hattest dich vor sechs Jahren bereit erklärt, einen Zeitenwendeartikel - vom Leben nach der blista - zu schreiben. Nun wollte ich mal hören, ob du Zeit und Lust hättest, dies auch in die Tat umzusetzen. Melde dich doch bitte mal bei mir, dann würde ich dir auch weitere Einzelheiten wie Umfang, Inhalte des Artikels, Termine, Verfahren etc. pp. nennen.
Hoffnungsvoll
Herr W

Der Abiball

„So Rafael, ich muss endlich wieder zurück in meine Wohngruppe. Das wars dann mit uns beiden. Sechs Jahre – und schon wieder alles vorbei. In sieben Wochen steht die nächste Generation vor der Tür. Dich werde ich auf jeden Fall noch lange in Erinnerung behalten. Mann, warst du anfangs anstrengend, konntest einfach nix auslassen.“
„Du warst aber auch manchmal ganz schön nervig.“
 „Heiliger steht ja auch nicht in meiner Jobbeschreibung. Konnte dir ja nicht jede Dummheit durchgehen lassen. Weißt du, wie viele Augen ich bei dir zudrücken musste?  Hätte jedenfalls nicht gedacht, dass das am Ende dann doch alles so glatt läuft. Willst du eigentlich immer noch Richtung Erziehungswissenschaften gehen?“
„Klar, habe ja in den letzten Jahren genügend Erfahrungen sammeln können. Erziehung ist doch ganz einfach. Ich muss immer nur überlegen: Was würde Herr W in dieser Situation tun? - Und dann mache ich einfach genau das Gegenteil. Aber jetzt geht´s erstmal für zwei Monate nach Spanien, Jugendcampbetreuer, direkt am Meer. Wird bestimmt anstrengend mit meinem Sehrest.“
„Du packst das schon. Hoffentlich nehmen die Kids dich ordentlich ran, so wie du mich rangenommen hast – Betreuer brauchen ja keinen Schlaf! Wäre jedenfalls eine späte Genugtuung für mich, du verstehst?“
„Komm, so schlimm war ich nun auch wieder nicht, lieber Herr W.“
„Ja, ja, aber ein Chorknabe warst du auch nicht. Feier noch schön und grüße deine SWG-Betreuerin von mir. Ich muss jetzt wirklich zurück in die Wohngruppe. Und viel Glück! Deine Mailadresse habe ich ja. Ich melde mich dann bei dir in einigen Jahren. Halt die Ohren steif, Rafael!“
„Zu Befehl!“

Tag Eins

Du stehst zur Anreise erstmals vor der Eingangstür der blista-Wohngruppe in der Biegenstraße 32 mit einer Sehbeeinträchtigung und deinen Eltern im Schlepptau. Du versuchst, möglichst cool und gelassen rüberzukommen - Herr W hätte das jedenfalls in deinem Alter so gemusst. Du suchst nach dem Klingelknopf, aber deine Eltern sind einfach schneller – das nervt, aber daran hast du dich schon lange gewöhnt. Angespannte Erwartung. Ein „Ja, hallo!?“ brummt es aus der Gegensprechanlage. Du willst deinen Namen sagen, aber deine Eltern sind schon wieder schneller: „Rafael Wiesbacher!“ Peinlich. Du sagst aber nichts, denn du willst in dieser angespannten Situation keinen Streit vom Zaun brechen. Du bist ja froh, dass sie mit dabei sind, eigentlich, denn das kannst du so weder denken noch sagen, also ist es im Grunde dann doch nur peinlich für dich, total.  „Zweiter Stock!“ schallt es zurück und der Türöffner summt. Deine Eltern schieben die schwergängige Tür auf und dich ins dunkle, muffig riechende Treppenhaus. Jetzt wäre es von Vorteil, wenn deine Eltern das ganz sachlich und nüchtern betrachten würden, also das Treppenhaus. Dein Vorteil: deine Sehschädigung. Muss ja nicht alles immer nur Nachteile haben.

Dazu muss man jetzt wissen, dass das Treppenhaus nun wirklich keine ästhetische Perle ist und frische Farbe seit geschätzten 50 Jahren nicht mehr gesehen hat - Minimum. Aber dieser etwas unkonventionelle „Used-look“ ist eben der Preis für eine gemietete Altbauwohnung mitten in der Stadt: Kino, Theater, Restaurants, Geschäfte, Bahnhof - alles ist zu Fuß erreichbar. Internat soll ja keine Internierung sein.

Du folgst deinen Eltern, also deinen Erziehungsberechtigten mit den beiden schweren Koffern, und dem Ruf: „Noch einen Stock höher!“ Klar, du könntest einen der Koffer auch selber tragen, aber wenn die sich unbedingt abschleppen wollen.

Das pädagogische Personal steht schon Spalier und stellt sich artig vor. „Steinebach.“ „Junge.“ „Ich bin der Winni“, sagt Herr W.  Deine Eltern stellen sich - und natürlich auch dich - ebenfalls vor, wieder waren sie schneller als du.

Du bekommst dein Zimmer gezeigt, leider ohne Meerblick, dafür 25 qm groß, damit du, also eigentlich deine Eltern, erstmal deine Koffer abstellen können. Deine Eltern sind zufrieden mit der Größe des Zimmers. Du dagegen kommst dir darin irgendwie verloren vor. Würdest gerne auch was Kleineres nehmen, aber du willst dich nicht mit deinen Eltern streiten, die gerade so viel Phantasie dabei zeigen, der spartanisch anmutenden Leere etwas Atmosphäre zu verleihen: Hier ein Bild, da noch eine Lampe, dort ein Beistelltischchen und ein kleiner Läufer vors Bett und schon isses sooo gemütlich. Du weißt genau, du wirst davon nichts umsetzen. Ist dir doch egal, wie dein Zimmer aussieht. Du hast im Moment ganz andere Prioritäten im Leben. Kleiner wäre feiner, aber groß hat natürlich auch gewisse Verteilungsvorteile, da fällt das Chaos nicht so ins Auge.
Das nimmst du dir natürlich nicht vor, das mit dem Chaos, das geschieht später einfach so.

Deine Eltern haben noch eine lange Rückfahrt vor sich und nehmen das Angebot eines zeitnahen Gesprächs bei Kaffee und Kuchen gerne wahr. Deine Mutter hat es gerade noch geschafft, deine Hosen und Jacken ordentlich auf die Bügel im Schrank zu hängen. Du denkst: Wenn es sie glücklich macht. In 14 Tagen ist doch schon wieder ein Heimfahrtwochenende, da muss man doch nicht extra die Koffer ausräumen. Dann sitzen du und deine Eltern und einer dieser auf jung getrimmten pädagogischen Mitarbeiter an der Kaffeetafel. Es wird viel erzählt und gefragt. Jedes Mal, wenn deine Eltern von deiner Kindheit berichten - was für ein süßer Fratz du doch warst, und dass du doch erst mit fast vier keine Windeln mehr brauchtest -, versinkst du etwas tiefer in deinem Stuhl, wirst noch etwas ruhiger – die Erwachsenen aber scheinen ihren Spaß zu haben. Hin und wieder wirst du auch etwas direkt gefragt, aber meistens ist deine Mutter, wie so oft, schneller. Auch gut. Rauchen? Alkohol? Nein, mein Sohn raucht und trinkt nicht. So musst du nicht schwindeln und dich um Kopf und Kragen reden. Du weißt, alles was du sagst, kann später einmal gegen dich verwendet werden. Vielleicht ist es doch besser, schüchtern und ruhig rüber zu kommen als zu cool – im Moment jedenfalls.  Also, das vierte Stück Kuchen hineinmümmeln, das wieder nicht nach zuhause schmeckt, sondern nach Bäckerei - und weiter schweigen.

Alles hat ein Ende, auch diese Frage- und Antwortstunde. Die Eltern weg, die beiden Koffer halbvoll auf dem Boden mitten im Zimmer - und da werden sie auch in zwei Wochen und danach immer noch liegen. Das Zimmer groß und leer. Du sitzt auf dem Bett und denkst: Was mache ich hier eigentlich? Wo bin ich da nur hineingeraten? Jetzt nur nicht raus müssen – my room is my castle. Es klopft. „Alles klar bei dir?“ – eines dieser jungdynamischen Schattenwesen steht vor dir. Manfred oder Winni? - Hören sich beide ähnlich an. „Deine Mutter hat ja vergessen dein Bett zu beziehen.“  Verdammt. Jetzt eine gute Erwiderung. „Äh, Bett beziehen lohnt doch nicht, ich bleibe doch nur ein Jahr.“  Herr W findet, dass der gut war. „Außerdem habe ich kein Bettzeug dabei, glaube ich.“ „Ah, kein Problem, wir haben immer was da für solche Fälle.“ Und schwupp steht er mit Bettzeug wieder vor dir. „Mach du das Kopfkissen, ich mach den Rest. Heute helfe ich dir mal beim Beziehen. Beim nächsten Mal schaffst du das sicher alleine.“ Du denkst: Beim nächsten Mal ist Weihnachten lange vorbei. Und sagst: „Ist das schweinchenrosa?“ „Ja ist es, farbenblind bist du also nicht.“  Du schwörst dir im Stillen, in zwei Wochen dein eigenes Bettzeug von Zuhause mitzubringen. „Na, bringst du in zwei Wochen dein eigenes Bettzeug mit? Dann kannst du dich ja dann im Bettbeziehen üben.“ Herr W sammelt seine ersten Minuspunkte bei dir – mieser Humor und mit Vorsicht zu genießen. Du erfährst auch noch von ihm, dass die Bettwäsche vor 28 Jahren angeschafft worden ist, solange gibt es die Wohngruppe schon, und dass Herr W seit Anbeginn, quasi dem Jahr Null, hier arbeitet, und dass es, wie man sieht, damals noch Qualität gab, also sowohl beim Bettzeug als auch beim pädagogischen Personal. Du fragst dich schon wieder, wo du da nur hineingeraten bist, hier scheint alles antiquarisch. Und dann blubbert der dich beim Bettbeziehen noch weiter voll. Du erfährst, dass du heute Nacht wahrscheinlich nicht gut schlafen wirst - ungewohnte Geräusche und deiner Gedanken wegen - und trotzdem morgen früh fit sein wirst – der Aufregung wegen. Die Müdigkeit kommt meist erst am nächsten Abend, behauptet er jedenfalls. Das sind alles Dinge, von denen du gar nichts wissen willst. Du lässt ihn reden, stellst dich beim Kopfkissen – ein wenig absichtlich – ungeschickt an, fluchst innerlich auf deine Mutter, die an alles denkt, nur nicht an Bettwäsche, und immer alles macht, nur dein Bett nicht bezogen hat. Dann verstummt Herr W. Alles ist erledigt, aus seiner Sicht. Was will er jetzt von dir?

Du sollst raus aus deinem Zimmer, deine Mitbewohner*innen, die unbekannten Wesen, kennenlernen. Jetzt gilt es also. Jetzt wird es ernst: There is no business like show business. Dein Auftritt!