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Eine Figur aus Playmobil sitzt an einem Schreibisch.

Heute: Abi-Ninja-Warrior *

Winfried Thiessen* | Auf leisen Sohlen huschte Herr W durch den langgezogenen Wohngruppenflur. Nur das Knarzen eines Bettgestells und das Tapsen von Füßen, die unruhig hin und her wanderten, unterbrachen die abendliche Ruhe. Er hielt inne, lauschte kurz, schlurfte weiter und blieb schließlich am Ende des Ganges stehen. Sein Klopfen gegen die dünne Holztür zerriss die Stille wie ein Donnerknall. Ein zaghaftes: „Herein!“ war zu hören. „Hier! Vorsichtig, ist noch heiß.“ Der Beruhigungstee in der Tasse dampfte noch. Ein bleiches Gesicht schaute ihn dankbar – ja fast flehend an. Herr W machte kehrt, nicht ohne vorher noch schnell einige aufbauende Sätze loszuwerden, dafür war er ja schließlich da. Wieder stand er alleine im dämmrigen Flur. Vorsichtig wurde eine Tür geöffnet wurde. „Komisch ich bin irgendwie noch gar nicht aufgeregt – aber mir ist leicht übel!“ Er versprach umgehend, einen Tee und eine Wärmflasche zu organisieren, die er für solche Anlässe vorrätig hielt. Unvermittelt spürte er einen Windzug in seinem Rücken. Eine Zimmertür war aufgeflogen und ein Elftklässler tänzelte hinaus in den Flur, Kopfhörer im Ohr, der Oberkörper wippte im Takt, die Arme zuckten rhythmisch. Herr W beendete die ausgefeilte Choreografie ohne Umschweife. „M-a-c-h h-i-e-r b-l-o-ß k-e-i-n-e-n Lärm!“ herrschte er den Jungspund an und erinnerte ihn daran, dass die Woche der Abiturprüfungen heraufgezogen war und nur noch diese eine Nacht zwischen seinen drei Abi-Ninja-Warriors und den ersten Prüfungen stand.

Das Mathematikfinale

„Willkommen verehrte Leser zu einer Spezialausgabe von Germany-Ninja-Warrior! Heute geht es ausnahmsweise mal nicht um Athletik und Geschicklichkeit, sondern um Gehirnakrobatik. Wir sind zu Gast an der legendären Blindenstudienanstalt in Marburg, auch blista genannt, und übertragen für Sie live das schriftliche Finale des Mathematikgrundkurses beim diesjährigen Abitur – also Bühne frei für unsere Mathe-Abi-Ninja-Worrier! Durch die Sendung führt Sie wie gewohnt unser Moderatorenteam Jan Köppen und Frank – Büschi – Buuuschmann**!“

„Danke, danke, danke! Aber sparen Sie sich den Applaus lieber für unsere Kandidaten auf! Sollten Sie es noch nicht bemerkt haben, das hier ist eine ganz besondere Veranstaltung, sozusagen die Paralympicsausgabe von Abi-Ninja-Warrior am wohl bekanntesten Gymnasium für sehbehinderte und blinde Schüler und Schülerinnen in Deutschland. Hier mussten sich viele der Teilnehmer sozusagen bis ins Finale vortasten.“

„Wirklich lustige Einleitung, Frank! Vor allem das mit dem Tasten hahaha! Aber wir haben keine Zeit zu verlieren, denn da quält sich auch schon der erste Teilnehmer den blista-Berg hinauf. Gleich können wir hier oben Malte begrüßen. Malte ist 22 Jahre alt, ein Inklusionsopfer, spät erblindet. Er ist seit fünf Jahren an der blista, hat vorher schon einige Schulen durchlaufen und wurde immer wieder weitergereicht, bevor er an dieser Fördereinrichtung mit dem Training beginnen konnte. Bei seiner Ankunft befand er sich in einem absolut desolaten Zustand, demotiviert, kam mit seiner Behinderung überhaupt nicht zurecht. Das musst du dir mal so ganz konkret vor Augen halten ­Büschi! Gestern hast du dir im Autohaus noch die dicken Schlitten angeschaut, vom Führerschein geträumt, bist ins Kino gegangen – alles völlig normal – und dann auf ­einmal, quasi über Nacht, gehen bei dir die Lichter aus! Der Bildschirm auf einmal dezent schwarz – so was kann einen schon aus den Latschen hauen. Seine Coaches in der Wohngruppe und bei der Blindentechnischen Grundausbildung wollten gleich mit ihm hart ins Training für den heutigen Contest einsteigen. Du musst wissen, der Druck, der auf allen Teilnehmern lastet, ist enorm, schließlich wollen die Sponsoren irgendwann Ergebnisse sehen. Wenn es denn mal so einfach wäre – denn schnell ging bei Malte damals gar nichts. Er wollte ja irgendwie, aber er stand völlig neben sich. Da half auch kein gutes Zureden, er ist morgens oft einfach liegen geblieben und durch nichts zu bewegen gewesen aufzustehen. Es war ein harter und zäher Lebensabschnitt für ihn, aber Schritt für Schritt hat er Kondition und Koordination aufgebaut, hat sich zurück ins Leben gekämpft – ja, und jetzt steht er hier im Finale. Nicht auszudenken, wenn man ihm nicht die Zeit gegeben hätte, um an sich zu arbeiten – in seinem früheren Zustand wäre er jedenfalls schon am erstbesten Koordinatenkreuz im Funktionsparcours gescheitert. Wir wollen nur hoffen, dass ihn sein Mentalcoach vom Psychologischen Dienst gut auf die kommenden Herausforderungen in Mathematik vorbereitet hat. Das wird ­sicher kein Zuckerschlecken für ihn. Und jetzt geht es auch schon los. Malte hat sich im Klausurraum in Position gebracht. Die Zeit läuft ab jetzt!“

„Jan, danke für die Infos über unseren ersten Teilnehmer. Ich glaube, Malte schafft das heute. Der hat sich wirklich gemacht! Der hat an sich gearbeitet, schon allein die straffe Körperhaltung, diese ausgeprägte Muskulatur in der Stirngegend. Man sieht, der hat sich nicht nur im Kraftraum ausgetobt. Er strahlt Ausdauer und Zuversicht aus. Der Junge ist ganz bei sich. Klar kann ich mich auch irren, schließlich hatte Malte erhebliche Mühe, sich für die Finalteilnahme zu qualifizieren, keine Frage – es war schwer für ihn. Er musste sogar eine Ehrenrunde drehen – da war er mit seinen Arbeitstechniken noch viel zu langsam. Aber er hat an sich gearbeitet und aus Fehlern gelernt. Er ist in Form. Ich sehe ihn ganz vorne mit dabei.“

„Aber Büschi, wenn ich mir den Parcours so betrachte, den er jetzt gerade von einer Lehrerin vorgelesen bekommt, mein lieber Schwan! Dieser Parcours erzeugt wirklich Demut! Gerade die Variablen scheinen es in sich zu haben. O.k. … Malte greift zum Kopfhörer, lässt sich die Aufgaben noch mal vorlesen, seine Finger wandern dabei gleichzeitig über die Braillezeile. Schau nur, wie die Fingerspitzen über die Zeile fliegen! Man, was legt der da nur für ein Tempo vor, um sich einen genauen Überblick zu verschaffen! Das macht er sehr geschickt – aber was ist das?! Er stockt! Was ist los mit ihm?! Ihm scheint alles aus dem Gesicht zu fallen! Siehst du auch das Entsetzen in seinen Augen, Frank?!“

„Jan! Jaaann! Der Junge ist blind, der denkt nur nach – das muss auch einem Abiturienten erlaubt sein! Siehst du, jetzt startet er durch. Das erste Hindernis, die Pyramide. Er zögert, er setzt an … bekommt er sie zu fassen? Es scheint mir fast, als hätte er sich bei ihrem Volumen verschätzt. Gut, er soll ja auch nicht schätzen, sondern rechnen. Malte!! Mensch Malte!! Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass …!!“

„Büshi, du musst nicht schreien, er kann dich nicht hören. Er hat einfach den Winkel viel zu steil berechnet. Das kommt davon, wenn man mit zu viel Schwung an das erste Hindernis herangeht, sieht einfach aus, hat es aber in sich!“

 „Schau nur Jan, wie er sich jetzt an das Ergebnis klammert! Wie er pumpt! Das kostet wertvolle Zeit und Kraft! Malte, lass los!!! Wie er unter den Armen schwitzt – hoffentlich lässt er sein T-Shirt an – obwohl, das weibliche Publikum würde dies wohl goutieren – er war ja nicht umsonst im Kraftraum! “

„Hör mal auf zu quasseln! Er hat es ja kapiert … so ist es richtig Malte. Jetzt macht er weiter. Schon ist er bei der Schnittstelle der Tangenten.“

„Nach seiner ersten Rechnung wäre die Tangente zu einer Passante geworden, wenn ich mich nicht irre. Aber Jan … Nein, was ist denn jetzt los?! Vorsicht Malte! Schau mal, wie seine Finger über die Kathete rutschen, diese Schwellkopie ist nicht ohne, hoffentlich verletzt er sich dabei nicht. Ja Junge, krall dich fest! Jetzt ist ihm die Tangente im Koordinatenkreuz etwas verrutscht … aber auch das hat er gesehen – Verzeihung – erfühlt und ja, jetzt weiter die Hypotenuse entlang …

… Ich glaube, er setzt sich selbst ganz schön unter Druck! Malte, entspann dich – hol erst mal Luft! Aber trotzdem dabei nicht locker lassen, konzentrier’ dich Junge, und mach hinne! Ja, geschafft! Jetzt geht es an die Säule. Grundfläche Kreis mal Höhe – Malte … Genau so! Siehst du, er schafft es locker… Nicht in der Nase popeln, Malte! Die Welt schaut zu … die Zeit, achte auf die Zeit! Ihm läuft die Zeit davon, … endlich ist er fündig geworden, aufessen, los! Jan, der Junge macht mich fertig! So jetzt macht er wieder weiter! Halt durch! Und jetzt nur noch das Endergebnis aufschreiben und – fertig! Und den Buzzer! Mensch Junge drück endlich den Buzzer! Geschafft! Ja, oh man Malte du bist unser Geometrie-Gott! Und wir fragen mal die Experten in der Redaktion: Wie schaut es für Malte aus? … Einen Moment! Ja, da kommt das vorläufige Ergebnis: 9 von 15 möglichen Punkten … damit platziert er sich in Mathe im guten Mittelfeld und ist damit wahrscheinlich sicher weiter!“

„Danke Büschi, für so viel Engagement, ohne dich hätte Malte es sicher nicht geschafft! Wir geben jetzt kurz runter zu Laura Wontorra, die Malte gerade vor dem Mikro hat.

„Und Malte, wie fühlst du dich?“
„Leer und ausgepumpt! Ich habe alles geben, und ich hoffe es hat gereicht!“
„Malte, wirst du heute Feiern?“
„Feiern? Morgen muss ich schon in den Deutschparcours. Ich fühle mich zwar gut vorbereitet, aber wenn ich gegen Schiller oder Goethe antreten muss – da habe ich schon Respekt vor, die haben zwar schon ­einige Jahre auf dem Buckel, aber für ihr Alter noch ne Menge Power. Die darf man nicht unterschätzen! Aber ich sag’ mal: Fack ju Göhte!“
„Malte, das ist dein Applaus…!“

„Danke! Danke an meine Fans! Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei all meinen ­Unterstützern, bei Lehrern und Betreuern, einfach bei allen bedanken, die an mich geglaubt haben und mir gerade deshalb das Leben manchmal schwerer machen mussten, als es mir lieb war - ohne euch wäre ich heute nicht hier, auch wenn ich das nicht immer so sehen konnte und wollte!! Danke, für alles!! Ich liebe euch alle!!

„Büschi, Büschi hast duuu das gehört? Reich mir mal ein Taschentuch? Meine Augen sind ganz glasig geworden! Das ist ja wie in einem modernen Märchen – was für ein Happy End! Ich sag’ ja schon immer: Geschichten, die das Leben schreibt, das sind einfach die aller-aller-besten, Büschi!“

Epilog

„Da hast du aber ganz schön dick aufgetragen, lieber Herr W! Geschichten, die das Leben schreibt … haha!“
„Was denn? Gut, am Ende sind die Pferde etwas mit mir durchgegangen, aber sonst … Ein Happy End ist doch o.k. – und dann aufhören, wenn es am Schönsten ist!“
„Hättest ruhig noch reinpacken können, dass er am nächsten Tag von Göhte gefickt wurde…“
„Ja, und schon hast du die Stimmung kaputt gemacht und die Geschichte ist jetzt zweideutig und nicht mehr familienkompatibel. Nix da – wir nehmen das Happy End!“
[*Pädagogischer Mitarbeiter im Internat,Fotos: Daniela Junge]

* Vorweg: Wer Germany Ninja Warrior, das nach den deutschen Feldhockeymeisterschaften wohl wichtigste Sportevent im deutschen Fernsehen noch nicht kennt, sollte vor dem Weiterlesen unbedingt seinen Horizont auf youtube erweitern.
** Ähnlichkeiten mit lebenden Personen der Zeitgeschichte sind rein zufällig.