„Das hast du hingekriegt“

Schulleiter Jochen Lembke – Ein Porträt

Thorsten Büchner* Verantwortung übernahm Jochen Lembke schon früh. Als ältestes von sieben Kindern wuchs Lembke auf dem elterlichen Hof in Schleswig-Holstein auf. „Da war ich schon dafür verantwortlich, dass ich auf meine sechs Geschwister aufpasse und musste auch für manches geradestehen“, beschreibt Lembke, den seine Herkunft aus dem landwirtschaftlich-dörflichen Milieu stark geprägt hat. „Wir sind mitten in der Natur, mit Kühen, Schweinen, Hühnern und Kartoffelfeldern aufgewachsen“, erinnert sich der 65jährige. 1959 wurde Lembke eingeschult. „Da wurden die Klassen 1 bis 8 in einem Raum von nur einem Lehrer unterrichtet.“ Später wechselte er auf eine weiterführende Schule nach Bad Segeberg, um dort sein Abitur absolvieren zu können. „Dann habe ich natürlich auf dem Hof gefehlt, aber meine Eltern haben immer den Bildungswillen ihrer Kinder unterstützt.“ Während seiner Schulzeit begann auch schon sein politisch-gesellschaftliches Interesse. „Die Ermordung Benno Ohnesorgs und die Proteste gegen den Vietnamkrieg waren da Schlüsselmomente. Das schlug sich bis zu uns in den hohen Norden durch.“

Nach dem Abitur ging es weiter nach Kiel, um dort das Lehramtsstudium in den Fächern Politik, Geschichte und Geographie aufzunehmen. „Dass es der Lehrerberuf ­werden würde, war lange nicht sicher. Meine Großmutter sagte immer: Du kannst gut reden, werde doch Pastor. Das kam für mich aber nicht in Frage.“

Marburg kam ins Spiel, als es darum ging, die Studienanforderungen im mittelalter­lichen Latein zu umgehen. „Ein paar meiner Kumpels waren aus diesen Gründen schon nach Marburg gewechselt und so habe ich mit meiner damaligen Freundin und heutigen Frau entschieden, die Koffer zu packen und dem Norden – so dachten wir – vorübergehend den Rücken zu kehren.“
Während seines gesamten Studiums arbeitete Jochen Lembke in den Semesterferien auf diversen norddeutschen Baustellen, um sich das Studium zu finanzieren. „Dort kam ich gut zurecht, weil ich diese handfeste, ­direkte Art aus meinem dörflichen Umfeld kannte.“

Auch nach seinem erfolgreich absolvierten zweiten Staatsexamen musste Lembke zunächst weiter im Straßenbau arbeiten. Er war gerade in einem bayerischen Gasthaus untergebracht, weil er unter der Woche bei  einer Autobahnerweiterung in Bayern ein­gesetzt war, da erreichte ihn der Anruf seiner Freundin Inga. „Bei ihr habe sich ein gewisser Hans Junker gemeldet, der Lehrer an der blista sei. Dort suchten sie dringend Lehrer mit der passenden Fächerkombination.“ Das könnte er sich ja mal anhören, und so fuhr Lembke nach Marburg zurück, um zum Vorstellungsgespräch beim damaligen Schulleiter Dr. Spiegelberg – in genau dem Büro, das Jochen Lembke die letzten zehn Jahre als Schulleiter selbst benutzte – zu erscheinen.

Ursprünglich sollte Lembke nur eine halbe Stelle bekommen. Doch während des Gesprächs erklärte Lembke, dass er mit der vorläufigen Befristung für ein Jahr („Wir hatten sowieso vor, nach Ingas Studium wieder in den Norden zu wechseln“) einverstanden sei, die halbe Stelle gefiele ihm aber nicht. Er schlug eine volle Stelle vor. Nach kurzer ­Bedenkzeit bekam er die Stelle, in vollem Umfang. Das war im Februar 1980. Lembke hatte vorher keinen Kontakt zu Blinden oder Sehbehinderten, lernte von den Schülern viel, fragte nach, ließ sich Dinge erklären. Zusammen mit Hans Junker und dem neuen Team des Medienzentrums machte er sich an die Arbeit, für den Erdkunde-Unterricht Mate­rialien zu entwickeln. „Das damalige Kartenmaterial war furchtbar veraltet und kaum noch zu benutzen.“

Dann begann wohl eine der aufregendsten und anstrengendsten Zeiten im Berufsleben von Jochen Lembke. „Weil ich mich zusammen mit Kollegen für die Entfristungen von Arbeitsverträgen einsetzen wollte, kandidierte ich 1981 für den Betriebsrat.“ Zehn Jahre lang war Lembke dort aktiv, viele Jahre als dessen Vorsitzender. „Diese Jahre, vor allem die Jahre der existenziellen Bedrohung der blista, haben mich ziemlich gefordert. Im Nachhinein haben sie mich aber auch extrem geprägt und weitergebracht“, erinnert sich der engagierte Gewerkschafter. Als recht junger Betriebsratsvorsitzender musste Lembke Mitte/Ende der 1980er Jahre mit hessischen Spitzenpoli­tikern, wie etwa dem Sozial- oder Finanz­minister – gemeinsam mit dem blista-Vorstand – verhandeln, um die in wirtschaftliche Turbulenzen geratene blista und die vielen Arbeitsplätze zu retten.

„Meine Frau hat mir später gesagt, dass ich in dieser stressigen Zeit überhaupt nicht ansprechbar war. Ich habe nur Bilanzen gelesen und mir den Kopf darüber zerbrochen, wie man die blista gemeinsam erhalten kann.“ Als die rettende Sanierung geschafft war, „hatte ich meine Aufgabe als Betriebsrat erfüllt.“ Stolz ist Lembke darauf, dass keine ­Arbeitsplätze der Sanierung durch das Land Hessen zum Opfer fielen. Als Betriebsratsvorsitzender war Lembke stets weiter als Lehrer tätig. Das Eintreten für die blista-Mitarbeiter, verbunden mit seiner fundierten, verbindlichen Art zu argumentieren, und sein Engagement für seine Schülerinnen und Schüler waren einige der Gründe, weshalb Jochen Lembke dann 1992 in die Schulleitung gewählt wurde. Seither arbeitete er als stellvertretender Schulleiter im Team mit Matthias Weström und Uwe Sparenberg. „Ich war dabei für den Innendienst zuständig, während Uwe Sparenberg der kreative Kopf und Matthias Weström für die Repräsentation nach außen verantwortlich war.“

Das Foto zeigt Jochen Lembke vor dem Schulgebäude

Im Jahr 2007 wurde er dann Weströms Nachfolger im Amt des Schulleiters der Carl-Strehl-Schule. In seiner blista-Zeit gab es viele, die blista umwälzende Veränderungen, wie die Ende der 1970er Jahre bereits begonnene Öffnung für Sehbehinderte oder die Einführung der Jahrgangsstufe 5 Ende der 1990er Jahre. „Es war und wird immer wichtig sein, dass die blista dicht an der gesellschaftlichen ­Dynamik und Entwicklung dran bleibt“, ist Lembke überzeugt. Daher war es ihm als Schulleiter immer besonders wichtig „eine gute Mischung im Lehrerkollegium“ zu haben.

„Das Credo in der Bildungspolitik sollte ­lauten: Für jeden Schüler und jede Schülerin nur die bestmögliche Bildung und  Schule.“ Die Irrungen und Wirrungen im deutschen Bildungssystem – nicht nur die unzähligen Integrations- und Inklusionsdebatten – hat Lembke stets aufmerksam verfolgt. „Wir ­setzen nun mit der geplanten Öffnung der CSS und der Erweiterung der Montessori-Schule die richtigen Signale“, ist Lembke überzeugt. „Diese Entwicklung konnte ich mit anstoßen. Jetzt würde ich eigentlich gerne auch weiter daran mitwirken, dass die Sache auch ins Rollen kommt. Aber: Meine aktive Zeit ist jetzt vorbei. Das muss ich akzeptieren.“

Für Lembke war es immer Antrieb, ob als Schulleiter, Lehrer, Betriebsrat oder in seinen vielen Ehrenämtern, ob als Kommunalpoli­tiker in Cölbe oder als Präsident des Mar­burger Lions-Clubs, dass „Gruppen, die ­strukturell benachteiligt werden, die Chancen erhalten, am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können.“ Deswegen ist ihm die ganzheit­liche Förderung und Bildung, wie sie an der blista praktiziert wird, so wichtig.

Zu vielen seiner Schülerinnen und Schüler hält Lembke über die sozialen Netzwerke Kontakt. „Jetzt, als es sich herumgesprochen hat, dass ich nun in den Ruhestand gehe, haben mir viele einen Post geschickt: „Sie waren immer fair zu mir!“ Darüber hat sich Lembke sehr gefreut. Was aus den blista-Schülern und Schülerinnen wird und wie es den aktuellen Schülerinnen und Schülern – auch jenseits des reinen schulischen Umfelds – geht, das war Lembke immer wichtig. „Mich haben meine Schüler einfach interessiert. Wenn man ihnen respektvoll gegenübertritt und weiß was sie beschäftigt, dann nehmen sie auch eher mal einen Rat an.“ Dieses Interesse am Gegenüber ist wohl auch der Grund dafür, dass Jochen Lembke jeden seiner Schüler mit Namen kennt, auch noch viele Ehemalige, wenn er sie bei blista-Feierlichkeiten trifft, mit Namen anspricht. „Ich befürchte, das wird jetzt altersbedingt etwas nachlassen.“
In 37 Jahren blista gibt es unzählige Geschichten und Anekdoten. Erinnerungen an Klassenfahrten, an schöne, unbeschwerte Stunden, aber auch manch schwierige Phasen und Entscheidungen. Rückblickend sagt Lembke, dass die blista „ein sehr, sehr großer Teil“ seines Lebens war und er – wenn er Bilanz ziehen soll - sich sagen könne „das hast du hingekriegt“.

Für den nun bevorstehenden Ruhestand hat er „noch keine Pläne.“ Vielleicht wird er im örtlichen Gesangsverein aktiv, wird sich sozial weiter engagieren oder – mit alten Kollegen – wieder zum Tennisschläger greifen. „Erstmal werde ich ein wenig Abstand brauchen. Dann kümmere ich mich um eine sinnvolle Tages- und Wochenstruktur.“

Eigentlich, so gibt er zum Schluss des Gesprächs zu, war sein Traum, gemeinsam mit seiner Frau Inga, die „eine begnadete Leh­rerin“ ist, eine eigene Schule aufzubauen. Das gehöre aber nicht in den Artikel, sagt der scheidende Schulleiter. Doch, gehört es. Denn Jochen Lembke hat in den 37 Jahren, an denen er an der blista gewirkt hat, viele Menschen geprägt und geformt. Schülerinnen und Schüler, aber auch Kolleginnen und Kollegen. Er hat mit seiner zugewandten, empathischen, aber dennoch klaren und ­humorvollen Art die blista und die Carl-Strehl-Schule verändert und sie zu „seiner“ Schule gemacht.
[Foto: Bruno Axhausen]