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Heute: Herr W und der liebe Gott
Herr W – Opfer zweier Weltreligionen
Winfried Thiessen * | Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Diese Nacht war die absolute Hölle. Bis spät abends hatte die Sonne das Mauerwerk des Altbaus gegrillt. Jetzt gaben die Steine die Hitze in die Innenräume ab. Das Betreuerzimmer glich einem Glutofen. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Unruhig wälzte sich Herr W im Bett hin und her. Schwitzte, strampelte sich frei, stand auf, tauschte die Decke gegen ein Laken, legte sich wieder hin – aber das Fegefeuer unter seinem Bett loderte unaufhörlich weiter. Irgendwann begann er zu frösteln. Das Laken zu dünn, die Decke zu dick. Zu kalt, zu warm, diese Nacht war ein einziges Martyrium. Gegen halb drei – vielleicht auch etwas später – fiel er vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf.
Er hatte noch nicht lange geschlafen, als er durch einen Donnerschlag, der sein Bett erzittern ließ, hochschreckte. Er fluchte ermattet ins Kopfkissen hinein. Wie oft hatte er ihnen in den letzten Tagen schon vorgebetet: Macht bitte die Türen leise zu! Benutzt die Türklinke! Ein Blick auf sein Smartphone sagte ihm, dass es erst kurz nach vier war – Ramadan. Seine Zöglinge plünderten wohl gerade den Kühlschrank, schnell den Magen füllen und zurück ins Bett. Nichts essen, nichts trinken – fasten bis zum nächsten Sonnenuntergang. Er legte sich wieder aufs Ohr, versuchte sich zu beruhigen. Als er den Glauben an etwas Nachtruhe schon fast verloren hatte, döste er doch noch einmal weg.
Um Punkt sieben wurde er durch das Läuten der Glocken der nahe gelegenen Elisabethkirche erneut aus dem Schlaf gerissen – an einem schulfreien Samstag. Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, fiel er in eine Art unruhigen Erschöpfungs-Schlaf. Aber als das Gelärme um Viertel vor acht erneut anhob, gestand er sich seine Niederlage ein, kroch aus seinem Bett und taumelte, kaum dass er die Augen offen halten konnte, durch den Flur zur Küche der Kaffeemaschine entgegen.
Herr W geht auf Nummer sicher Teil 1: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele …
Vor ihm ragten die Türme der Elisabethkirche in den strahlend blauen Himmel. Die Glocken gaben an diesem Morgen – wie immer – ihr Bestes, riefen die Gläubigen zum Gottesdienst, so auch seine blinde Schülerin. Sonntag für Sonntag musste er sie zur Kirche bringen, obwohl der Weg von der Wohngruppe doch kurz und unkompliziert war. Aber sie bestand jedes Mal auf seine Begleitung. Hoffte sie vielleicht insgeheim darauf, ihn eines Tages doch noch zum Bleiben zu bewegen? Herr W musste schmunzeln. Er und Gott gingen schon seit langem getrennte Wege.
Im Inneren der Kirche war es angenehm kühl, die wenigen Gläubigen verloren sich in den Stuhlreihen, während sich draußen enttäuschte Touristengruppen drängelten, die ihre Besichtigung verschieben mussten. Herr W machte sich wieder auf den Weg zurück zur Wohngruppe und überließ seine Schülerin der sonntäglichen Erbauung.
Etwas später, als er sie wieder abholen und aus der Kirche führen wollte, verabschiedete der Pastor gerade jedes seiner Schäfchen persönlich per Handschlag. Auch Herr W – an diesem Morgen ganz in schwarz gekleidet – wurde von ihm mit einem sanften Händedruck bedacht.
Vor der Kirche, neben der imposanten eisernen Eingangspforte, kauerten – wie jeden Sonntagmorgen – zahlreiche Bettler, die auf Almosen der Kirchgänger hofften. Er gab – wie immer – reichlich, denn sie sollten nicht umsonst gewartet haben. Außerdem liebte er den Klang seiner Münzen in den dargereichten Holzkästchen. Und so trat er leicht und beschwingt den Weg zurück zur Wohngruppe an.
Herr W und die höhere Mathematik: die Dreifaltigkeitslehre
„Also, es gibt, wenn ich die letzten Worte des Pastors richtig verstanden habe: Gott Vater, seinen Sohn Jesus und dann wäre da noch der Heilige Geist“, hörte er sich zu seiner Schülerin sagen. „Kannst du mir vielleicht erklären, wie es sein kann, dass in einer monotheistischen Religion drei Gottheiten nebeneinander existieren?“ Er erntete nur ein langgezogenes „Mmmhh! – Du stellst vielleicht Fragen!“ Nach einer kurzen Pause schob er hinterher: „Und dann sind da ja auch noch die Engel, der Teufel und die ganzen B-Promis, also die Heiligen.“ Der Witz mit den B-Promis entlockte Herrn W ein breites Grinsen. Seine Schülerin, die an seinem Arm neben ihm her schlenderte, verzog keine Miene. „Wenn ich denke, wie herablassend wir als Anhänger einer Buchreligion oft auf die Hindus schauen. Wir haben doch anscheinend auch kaum noch einen Überblick über unsere ganzen Gottheiten und Nebengottheiten“, legte er nach. Doch seine Schülerin trottete einfach wortlos neben ihm her. „Im Judentum gibt es nur einen Gott und soweit ich weiß, ist im Islam Jesus nicht Gottes Sohn, sondern Jesus gilt dort nur als ein Prophet, so wie Mohammed, denn es kann ja nur einen Gott geben, oder etwa nicht?“ Sein Schäfchen blieb ihm auch diesmal eine Antwort schuldig. Wenig später in der Wohngruppe – der von ihm aufgesetzte Kaffee war noch nicht ganz durchgelaufen – reichte sie ihm ihr Handy und er hatte den Pfarrer ihrer norddeutschen Heimatgemeinde am Ohr, der ihm umständlich zu erklären versuchte, dass drei und eins in manchen Fällen durchaus ein und dasselbe sein kann.
Herr W und das Reisefieber
Wochenende. Der Sommer, wie auch der Ramadan, liefen auf vollen Touren. Lange heiße Tage und kurze Nächte. Fasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – so lautet die Vorschrift. Bisher hatte sich Herr W mehr Gedanken über die Sinnhaftigkeit von Glaubensvorschriften überhaupt gemacht und weniger über ihre Feinheiten. Aber auch hier lernte er jeden Tag Neues hinzu. Als er am Samstagmittag, kurz vor Dienstende, wie immer seine Abschiedsrunde durch die Wohngruppe drehen wollte, fand er einige Zimmer der Ramadaner im unteren Stockwerk zu seiner Überraschung verwaist vor. Seine Nachforschungen ergaben, dass die drei zum Frühstücken und anschließendem Shoppen nach Gießen gefahren waren. Sein Zögling musste wohl seinen fragenden Blick bemerkt haben, denn er fügte sofort hinzu: wer sich auf eine Reise begibt, darf den Ramadan unterbrechen. Herr W musste lächeln. Auf die Idee, dass die 35 Kilometer nach Gießen schon als Reise zu werten seien, wäre er von alleine nicht gekommen.
Herr W geht auf Nummer sicher Teil 2: Der Dresscode
Klopfen. Innehalten. Klopfen. „Einen Moment! Gleich!“ hörte er eine zarte Stimme rufen. Ans Warten war Herr W bereits gewöhnt. „So, jetzt!“ Seine Schülerin öffnete schwungvoll die Tür, das Kopftuch notdürftig übergeworfen, aber es erfüllte seinen Zweck – na ja, ein wirklich winziges Strähnchen war noch sichtbar, aber wen interessierte das schon? Herr W durfte nun endlich ihr Zimmer betreten. Es nervte ihn, dass Er – also der mit dem großen E – sich überall einmischen musste, denn gerade in Kleiderfragen hätte er ein Update dringend nötig, aber Er – also der mit dem großen E – meldete sich ja nicht mehr persönlich bei seinen Followern – so wie früher.
In seiner Jugend galt die Jeans für einen guten Christenmenschen als Teufelszeug - amerikanisch, modisch, lasterhaft. Da verstand Er – also der mit dem großen E – anscheinend keinen Spaß, jedenfalls waren seine Eltern dieser Meinung. Maximal Cordhose, besser noch eine aus Stoff war o.k für Ihn – also den mit dem großen I –, behaupteten sie. Aber das war absolut peinlich für ihn, also den mit dem kleinen i – denn wer so uncool rüberkam, konnte in seiner Peergroup nicht punkten. Am Ende, nach langem hin und her, hatte er sich gegen seine beiden alten Herren, also den da oben und den hier unten durchgesetzt – aber was war das für ein Zoff für fast nix gewesen!
Vor kurzem kamen ihm dann aber doch wieder Zweifel an seiner Entscheidung. Im Bücherregal hatte er seine alte Kinderbibel wiederentdeckt und als er in Erinnerungen schwelgend durch die buntbebilderten Seiten blätterte, fiel ihm auf: ob nun Jesus oder seine Jünger, alle trugen sie meist Sandalen oder gar nichts an den Füßen. Nirgendwo konnte er seine geliebten Nikes entdecken. Und plötzlich durchfuhr es ihn und er hörte eine Stimme in seinem Kopf, die zu ihm sprach und folgendes zu ihm sagte: „Geh auf Nummer sicher und wirf sie weg! Just do it!” And – he did it!! – Hey man, das war nur ein Witz, die hatten satte 140 Euro gekostet!
Allgegenwärtig
„Du musst gar nicht an Gott glauben“, hat mal jemand zu ihm gesagt, „und es spielt auch gar keine Rolle, ob Er“ – also der mit dem großen E – „existiert oder nicht. Solange es Gläubige gibt, wird es auch Gott geben. Also musst du dich mit Ihm irgendwie arrangieren.“ Da, dachte Herr W, ist wohl was dran. Deshalb ist für ihn ganz wichtig: eine gesunde Ignoranz – T’schuldigung – ich meine natürlich Toleranz gegenüber dem Glauben anderer an den Tag zu legen, weil Intoleranzen gibt es ja schon genug bei den Menschen – und es wird ja auch immer schlimmer: Fruktose, Laktose – Intoleranz ist zu einer richtigen Zivilisationskrankheit geworden, die Verträglichkeit gegenüber allen und allem nimmt ja immer mehr ab. Aber man wird auch mal einen Witz über Ihn – also dem mit dem großen I – machen dürfen – soviel Toleranz muss auch sein – lass Ihn einfach selber entscheiden, ob Er den Witz lustig findet oder nicht.
Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes …Herr W klappte das Buch zu, legte es sich auf den Kopf und stellte sich an den Türrahmen. Mit einem Stift zog er eine Linie am unteren Rand des Buches. Früher hätte er dabei geschummelt, aber jetzt wollte er es genau wissen: Einsvierundsiebzig.
[*Pädagogischer Mitarbeiter im Internat, Fotos: Ralf Allwermann]