Inklusion und Innovation 3/2016: Bericht zur Expertentagung "Zukunft der Arbeit"
Fluch und Segen von Digitalisierung, Globalisierung und lebenslangem Lernen
Um die Zukunft unserer Arbeitswelt ging es beim Expertenforum der Projektlinie Inklusion & Innovation, das jetzt aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der blista stattfand. Rund 60 Expertinnen und Experten aus Deutschland und den Niederlanden diskutierten die Perspektiven und Erfolgsfaktoren inklusiver Arbeit.
Wie werden wir in Zukunft arbeiten und lernen? Welche Folgen haben gesellschaftlichen Trends wie Digitalisierung oder „Industrie 4.0“? Wie reagiert der Arbeitsmarkt? Und welche Konsequenzen haben diese Entwicklungen für die Beschäftigungschancen von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung?
Mit drei Impulsvorträgen, neun Projektpräsentationen und einer Podiumsdiskussion gelang dem Expertenforum eine Verschränkung vielfältiger Perspektiven. Deutlich wurde, dass Empowerment, eine durch Offenheit geprägte Haltung auf Arbeitgeberseite, selbstbewusste Kompetenzförderung, die gezielte Vernetzung unterschiedlicher Akteure, die Schaffung von Anreizsystemen sowie eine barrierefreie Zugänglichkeit der Arbeitsumgebung zu den wichtigen Schnittmengen erfolgreicher Ansätze zählen.
Das Ziel: Den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt stärken
Zum Einstieg der Tagung präsentierte blista-Direktor Claus Duncker u.a. statistische Kennziffern über Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Diese verdeutlichen: „Die Phase der Vollbeschäftigung, die zurzeit gerne ausgerufen wird, geht an den Blinden und Sehbehinderten leider vorbei.“ Duncker wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Digitalisierung Fluch und Segen zugleich“ sei. Auf der einen Seite führe sie zum Verschwinden etablierter Berufsbilder, auf der anderen eröffne sie neue Möglichkeiten. Bildungseinrichtungen wie der blista schrieb er ins Stammbuch: „Unsere Aufgabe kann nicht damit enden, junge Menschen auf dem Weg zum Abitur zu begleiten. Wir müssen uns noch stärker um den Übergang zwischen Schule und erstem Arbeitsmarkt kümmern!“ Dr. Mittermüller vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration ergänzte in seinem Grußwort mit Blick auf die Vielfalt der sich präsentierenden Projekte, diese würde „keine Haltung der Bedürftigkeit, sondern einen selbstbewussten Ansatz der Kompetenzförderung“ vertreten. Für die Zukunft wünschte sich Mittermüller mehr solcher Projekte, denn, so seine These: „Barrieren bestehen vor allem im Kopf. Inklusion beginnt mit Begegnung.
Digitalisierung: Jobkiller oder Jobknüller?
Big Data, künstliche Intelligenz und Industrie 4.0 – über den gesellschaftlichen Megatrend der Digitalisierung und seine Konsequenzen für die Teilhabe von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung am Arbeitsmarkt sprach Dr. Hans-Peter Klös, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft (Köln). Er vertrat die These, dass in Zukunft die Wertschöpfung weniger von Gütern, sondern eher von der Verarbeitung von Daten abhängen wird und dass die Symbiose des „Internets der Dinge“ mit dem „Internet der Dienste“ nicht nur die Industrie, sondern auch viele andere gesellschaftliche Teilbereiche wie z.B. die Kultur verändern wird. Die Frage, ob dieser Trend ein „Jobkiller oder Jobknüller“ sein wird, beantwortete Klös „unter dem Strich positiv“. Während Expertenberufe kaum von negativen Konsequenzen betroffen sein dürften, sieht dies bei einfachen Hilfsberufen anders aus. In seinem Fazit rief der Volkswirt in Erinnerung, dass der „Erhalt des Erfahrungswissens“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt.
„Allgemeiner Arbeitsmarkt geht vor Beschäftigung in Werkstätten“
Peter Gudat (Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit) prognostizierte angesichts der bis 2025 erwarteten Schere zwischen Erwerbspersonenpotenzial (fallend) und Arbeitskräftebedarf (steigend), dass IT- und Lehrende Berufe von dem Trend profitieren, während Berufe des Verarbeitenden Gewerbes von Personalabbau betroffen sein werden. Dabei nimmt die Relevanz des Bildungsstatus zu: Geringqualifizierte sind achtmal häufiger arbeitslos als Hochschulabsolventen und viermal öfter als beruflich Qualifizierte. In der Konsequenz plant die Bundesagentur eine Weiterentwicklung unter dem Slogan „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“. Hierzu zählen eine Intensivierung der Aus- und Weiterbildung, obligatorische Kompetenzanalysen und, insbesondere für Menschen mit Behinderung, eine Stärkung der assistierten und verzahnten Ausbildung. Gudat schloss in seinem Plädoyer: „Die Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt geht vor der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen!“
Sind Lerndaten der nächste Hype?
Über die Wechselwirkungen zwischen der Arbeits- und der Lernwelt gab Prof. Dr. Wolfgang Seitter von der Marburger Philipps-Universität aktuelle Einblicke. Nach seiner Einschätzung wird die klassische Trennung von Arbeits- und Lernzeit immer mehr aufgehoben, stattdessen sind diese beiden Tätigkeiten permanent verschränkt. Die Verantwortung für die Lernzeiten geht dabei – auch hier wiederum, wie schon bei der Digitalisierung, Fluch und Segen zugleich – auf den Einzelnen über, der somit zum „Lernkraftunternehmer“ wird und permanent seine Work-Learn-Life-Balance austarieren muss, wie der Erziehungswissenschaftler in Erweiterung des prominenten Konzepts der Work-Life-Balance ausführte. Dies hat Konsequenzen für die Organisation der Zeit im Betrieb: Wer entscheidet, was Lernzeit ist und was nicht? Dieser Paradigmenwechsel führt auch zu neuen Daten – laut Seitter werden die Lerndaten in Zukunft mindestens genauso viele „Begehrlichkeiten wecken“ wie Gesundheits- und Konsumdaten.
Selbstbewusst mit dem Thema Blindheit umgehen
Die abschließende, von Michael Herbst moderierte Podiumsdiskussionsrunde mit Vertretern der Selbsthilfe wie z.B. Dr. Heinz Willi Bach (2. Vorsitzender des DVBS - Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.), Verantwortlichen aus der Praxis wie Dieter Doetsch vom Programm „Chancen durch Ausbildung“ (ING DiBa AG) und Experten für die Schnittstelle zwischen Bildungsanbietern und Arbeitsmarkt wie Jürgen Nagel (Leiter der Rehabilitationseinrichtung der blista) versuchte, in dem vielfältigen Spektrum der Referate und Präsentationen Gemeinsamkeiten zu finden und Erfolgsfaktoren zu identifizieren. Hierzu zählen selbstbewusster Umgang mit dem Thema Blindheit und Sehbehinderung, Verständnis für etwaige Denk-Barrieren auf Arbeitgeberseite und die Ausdauer, diese durch Überzeugungsarbeit und gemeinsame Projekte weiter abzutragen. Die weitere Vernetzung der Modellprogramme und Initiativen untereinander wurde ebenfalls positiv gewertet. Alle einte das Ziel vereint, die Integration von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. Einen zentralen Punkt berührte zudem die Wortmeldung einer Schülerin, die betonte, wie wichtig es sei, sich angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und etwaigen Hürden möglichst frühzeitig um eine Praktikums- oder Ausbildungsstelle zu kümmern. Das Schlusswort gebührte Jürgen Nagel, der betonte: „Die Zukunft der Arbeit für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung bleibt spannend und herausfordernd. Wir haben heute wieder einmal eindrücklich gelernt, dass Digitalisierung nicht nur eine Bedrohung ist, sondern auch vielfältige Räume am ersten Arbeitsmarkt bietet, deren Türen wir mit Engagement und Kompetenz für unsere Zielgruppe aufschließen können.“
Folgende Projekte stellten sich auf der Expertenforum „Zukunft der Arbeit“ vor (in alphabetischer Reihenfolge):
- „Chancen durch Ausbildung“ bei der ING-DiBa, Referent: Dieter Doetsch
- focus Arbeit gGmbH, Referentin: Susanne Patze
- Hessisches Perspektivprogramm zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen (HePAS), Referent: Thomas Lange vom LWV Hessen Integrationsamt
- Inklusion & Innovation – Modellsäule blista, Referentin: Ute Mölter
- Inklusion & Innovation – Modellsäule KOMPASS, Referentin: Ellen Bommersheim
- SAP @ blista, Referentin: Ute Ruffert (IT-Ausbildung der blista)
- ToP: Künftige Teilhabe (Niederlande), Referentin: Judith Wijnen (Visio)
- TriTeam, Referent: Jörg Korinek (DVBS)
- UnternehmensForum, Referent: Reinhard Wagner (Fraport AG)
Die Projektlinie Inklusion & Innovation wird gefördert aus Mitteln des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration und aus Mitteln der Europäischen Union - Europäischer Sozialfonds.
Kooperativ und in paralleler Durchführung mit dem Projekt des Gründerzentrums Kompass, Frankfurt, legt die blista den Fokus auf einen kompetenzorientierten, individuellen Ansatz und zielt auf die Arbeitsmarktintegration, gelingende Übergänge und die Unterstützung von Gründungsvorhaben von blinden und sehbehinderten Menschen.
Nähere Informationen über die blista-Projektlinie Inklusion & Innovation finden Sie in der Rubrik "Beratung und Rehabilitation".