Inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig:

Die Ausstellung blick:punkte im Marburger Landgrafenschloss

Dr. Imke Troltenier. Die Ausstellung blick:punkte verspricht ein wohl bislang deutschlandweit einmaliges Ausstellungserlebnis: Sie ist inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig. Zugänglich und barrierefrei erzählt sie von der Entwicklung der blista inmitten der Universitätsstadt Marburg. Es geht um die Gründung im Ersten Weltkrieg, das Naziregime, eine Zeit unmenschlicher Verbrechen, es geht um Mythen, Macher, die stürmische Zeit des Aufbruchs?… Und um Exponate zum Anfassen und Ausprobieren, die Entdeckung immer neuer Möglichkeiten für ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben: Bücher, die für Blinde lesbar werden; Apps, die Farben erkennen, Computer, die sprechen – zugleich geht es um das Hier und Jetzt, das gesellschaftliche Miteinander von blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen.

Die Ausstellung im Marburger Landgrafenschloss wird als Gemeinschaftsprojekt der blista und der Stadt, dank Unterstützung der Philipps-Universität, der Agentur ConCultura und der Förderung durch Aktion Mensch zum Internationalen Museumstag am 22. Mai 2016 von Staatsminister Boris Rhein eröffnet. Sie lädt die Marburger Bürgerinnen und Bürger und zugleich die vielen großen und kleinen touristischen Besucher, Schulklassen sowie Studenten aus aller Welt dazu ein, sich mit den spannenden Fragen unserer visuellen Welt auseinanderzusetzen, sie mit Ohren und Fingern wahrzunehmen und das Leben in der Gemeinschaft mit anderen Augen zu betrachten.

Wie verliebt man sich, wenn man nichts sieht? Wie träumen Kinder, die das Licht der Welt nicht kennen? Was bedeuten eigentlich diese Knubbelpunkte im Oberstadtaufzug? Warum heißt die blista „Blindenstudien­anstalt“? Warum gibt es sie überhaupt? Wie sieht die Berufswelt blinder und seh­behinderter Menschen aus? Und warum ist gutgemeinte Hilfe manchmal alles andere als das?

Eine Hand zeigt mit dem Zeigefinger auf das taktile Marburger Schloss-Modell
© blista

Von der Idee zum Konzept: Partner finden!

„Einen schönen guten Morgen, liebe Frau Troltenier. Ich habe da was für sie?... – zum 100-jährigen blista-Jubiläum braucht es unbedingt auch eine historische Ausstellung!“. Ein kleiner, silberner USB-Stick wanderte von der einen in die andere Hand. Es war Tom Wendling, der viel zu früh verstorbene blista-Archivar, der mit der digitalen Dokumentation eines Archivprojektes der Autorin als damals noch neuer blista-Kollegin die Idee überbrachte.

Tatsächlich ergab sich im Jahr 2014 aus der Planung der Jubiläums-Ausstellung „Hörwelten“ die Möglichkeit, die Idee aufzugreifen: Ein langes Gespräch mit Dr. Richard Laufner, Kulturamtsleiter der Stadt Marburg, endete in bilateraler Zuversicht: „Eine blista-Ausstellung, das könnte etwas Großartiges werden!“, oder zumindest ein Vorhaben, dem es sich lohnte nachzu­gehen.

Nach Beratung im Vorstand kam blista-­seitig Jürgen Nagel hinzu, Kulturamt-seitig Kariona Kupka. Die Innovationskraft der blista dokumentieren, die blista-Rolle in der Nazizeit wissenschaftlich aufarbeiten, das Landgrafenschloss als Ausstellungsort gewinnen, Stevie Wonder oder Andrea Bocelli fürs kulturelle Begleitprogramm engagieren, einen blista-Pfad durch die Stadt installieren– die kreativen Ideen flogen hoch, die Diskussionen warfen spannende Fragen auf, die Zusammenarbeit funktionierte gut. Fünf Termine später hatte das inhaltliche Konzept Form angenommen. Kein Zeitstrahl sollte vorgefertigte Antworten liefern, wir wollten Akzente und Zeichen setzen! Zu klären waren zunächst die Finanzierung und die Wahl einer professionellen Unterstützung.

Orientierung und Mobilität in den 1970ern. Eine junge Frau geht die Stufen zum Gleis am Marburger Bahnhof hoch.

Vom Konzept zur Umsetzung:bewahrte Schätze entdecken!

Während das Kulturamt schließlich mit einem beachtlichen Etat aufwartete und langjährige Kooperationserfahrungen für die Agentur ConCultura mit Elke Hartkopf, Reiner Söntgen und Innenarchitekt Peter Kneip als professionellem Partner stimmten, mussten erst umfangreiche Recherchen für die Projektleitung die gute Basis für den ­erfolgreichen blista-Antrag bei Aktion Mensch schaffen.

Dann galt es, die blista-Arbeitsgruppe wachsen zu lassen: Die Wahl fiel auf Thorsten Büchner, Tatjana Baal und den just im Ruhestand angekommenen Horst Lehnert. Gemeinsam bildete man fortan die „Kleine Runde“ der blista-Akteure, die sich emsig ­tiefer und tiefer wühlte: in die blista-Archive, die Literaturquellen, die Einbindung von ­Expertinnen und Experten der bundesweiten Selbsthilfe und die Herausforderungen einer Ausstellungsgestaltung – später verstärkt durch Jürgen Mai.

Wie kommt man an eine bezahlbare Lizenz für eine Sequenz des Filmklassikers „Im Westen nichts Neues“ und damit zu einem eindrucksvollen Einstieg in die Zeit der kriegserblindeten Soldaten, der Gründerväter und der vielen ehrenamtlichen Helferinnen aus der Marburger Bevölkerung? Schließlich war es der Einsatz von Giftgas, der die erschreckende, neue Kriegsführung im Ersten Weltkrieg prägte und 3.000 überlebende Soldaten ihrem Schicksal blind überließ. Mit ihrem Rechtsanspruch auf Rehabilitation und Arbeitsmarktintegration waren sie den sogenannten „Zivilblinden“ zunächst deutlich ­voraus. Wie spiegelten sich später die 1968er Jahre, die internationale Krüppelbewegung und die technologische Revolution an der blista? Würde es gelingen, eine der Original-Telefonanlagen als Exponat für die Telefonistenausbildung an der blista zu finden? Oder eines für die Produktion der seltsamen „Stachelschrift“? Wo könnte sich noch eine Gebrauchsanleitung zum Optacon befinden, der dereinst sensationellen ersten Möglichkeit, Schwarzschrift in taktil erfassbare Schrift zu übertragen?

Inklusiv zugänglich und interaktiv: eine Ausstellung ohne Vitrinen?

Der Wissenstransfer zwischen den Ausstellungsmachern wurde zum bestimmenden Thema in der „Großen Runde“. Wie gestalten wir das Leitsystem, das durch die Themen­inseln führt? Was bedeutet Barrierefreiheit genau? Wie wird die Schwarzschrift auf den Tafeln zugänglich? Schaffen wir es, ganz und gar ohne gläserne Vitrinen auszukommen? Lässt sich in den Schlossmauern ein W-LAN installieren? Gewinnen wir die Bewerbung beim Hessischen Museumsverband um die hessenweite Auftaktveranstaltung des Internationalen Tages? Wie gestalten wir sie? Werden Menschen mit Blindheit, Seh- oder Mobilitätseinschränkung überhaupt das Landgrafenschloss bis dahin selbstständig und selbstbestimmt erreichen können? Und was bieten wir für Menschen mit Höreinschränkungen?

„Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!“ – in den dunklen Herbst- und Winterwochen des Jahres 2015 wuchs der Zeitdruck, die Diskussionen in der „Großen Runde“ wurden komplexer. Viele der E-Mails enthielten nun gleich mehrere und gar aneinandergereihte Ausrufezeichen. Innovationen entstehen an den Schnittstellen – aus dem Credo der Projektleitung spricht die langjährige Erfahrung, dass in der Zusammenarbeit so unterschiedlich aufgestellter Partner oft auch die „Hitze“ für hervorragende und innovative Lösungen entsteht. Zugleich waren besonders diese Wochen immer wieder – und nicht zuletzt durch einen Wasserschaden im Gebäude der Hörbücherei, durch Glück, Zufall und aufmerksame blista-Kolleginnen und Kollegen – von der Entdeckung faszinierender „Schätze“ begleitet.

Hörbar lebendig und spannend bis zuletzt

Mindestens neun „Hörstationen“ werden in der Ausstellung bzw. an den sieben Themeninseln installiert, an jeder geben dann sechs unterschiedliche Audiodateien via Kopfhörer Auskunft. Der erste Knopf oben links bietet jeweils eine Orientierung an über den Aufbau der Themeninsel, über die Schwarzschrift-Texte, Fotos und Grafiken an den Wänden und die möglichen Exponate, die zum Ausprobieren einladen. Die weiteren fünf Audioknöpfe informieren, hinterfragen oder erwecken Originalstimmen zum Leben.

Und wie war es nun damals? War die blista von 1933 bis 1945 eine „Insel der Glückseligkeit“ oder gar aktiver Teil des Systems?

Spannend bis zuletzt blieb die Suche nach dem sogenannten „blista-Kellerarchiv“, den Akten der Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen aus den oben genannten Jahren. Dieses Geheimnis wurde gelüftet, andere blieben vorerst ungelöst. Jedenfalls stand mit Beginn des Jahres 2016 der Zusammenarbeit mit der Philipps-Universität zur Themeninsel 2, der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Rolle der blista in der NS-Zeit, nichts mehr im Wege.

Logo Aktion Mensch

Bis zur Ausstellungseröffnung sind es nunmehr wenige Wochen. Inklusiv, interaktiv und hörbar lebendig – ob es uns gelungen ist, alle Vorhaben umzusetzen? Ob die Ausstellung blick:punkte Spaß machen und den Dialog zwischen blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen inspirieren wird? Alle Mitwirkenden sind schon jetzt sehr gespannt auf die Stimmen der Besucherinnen und Besucher.

* Leiterin Öffentlichkeitsarbeit

Die Ausstellung im Marburger Landgrafenschloss wird als gemeinsames Projekt der blista und der Stadt zum Internationalen Museumstag in Hessen am 22. Mai 2016 eröffnet. Nach Ausstellungsschluss wird blick:punkte zum Jahresende 2016 auf den blista-Campus umziehen. Angeschlossen ist ein spezieller Pfad durch die Universitätsstadt.

Magistrat der Universitätsstadt Marburg
Stadträtin und Kulturdezernentin Dr. Kerstin Weinbach
Projektleitung: Kariona Kupka, Dr. Richard Laufner; Mitarbeit: Janine Clemens

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)
Direktor Claus Duncker
Projektleitung: Dr. Imke Troltenier; Entwicklung und Umsetzung: Tatjana Baal, Thorsten Büchner, Horst Lehnert, Jürgen Mai, Jürgen Nagel

In Kooperation mit dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Philipps-Universität Marburg und dem Hessischen Museumsverband. Planung und Realisation: ConCultura GmbH Bonn. Die Ausstellung wird gefördert durch die Aktion Mensch, die Stiftung Deutsche Blindenstudienanstalt und die Dr. Georg Blindenstiftung.

 

Am 22. Mai 2016 ist Internationaler ­Museumstag!

http://www.museumsverband-hessen.de/ de/veranstaltungen/internationaler-museumstag