Von gelebter Demokratie und dem Wert von Kaffeepausen

Das Foto zeigt ein Portrait der blista-Praktikantin, sie lächelt zu den Betrachtenden hin, ihr Haar ist von einem rosafarbenen Kopftuch bedeckt

Ein Bericht unserer ägyptischen Praktikantin Samia Talaat über ihre Zeit an der blista

Ins Deutsche übertragen von Imke Troltenier | Zu allererst möchte ich mich bei den vielen Menschen bedanken, die mir während der Praktikumszeit geholfen haben und beginne mit Direktor Duncker, der mir das Praktikum ermöglicht hat, Dr. Imke Troltenier, die ihr Bestes gab, um mir wichtige Einblicke mit meinem kom­plizierten Zeitplan zu eröffnen, sowie all den vielen Lehrkräften, die mich an ihrem Unterricht teilnehmen ließen, speziell Herrn Rupprath, Frau Dirmeier und Herrn Walz, die mich nicht nur im Unterricht hospitieren ließen, sondern mir ermöglichten, mich aktiv einzubringen und viele Themen auch mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren.

Die blista ist eine so einzigartige und wichtige Einrichtung. Ich hoffe, meine Erfahrungen hier in begrenztem Umfang zusammenfassen zu können. Das erste Erlebnis ist ein lustiges, aber ich bin mir sicher, dass es gern gelesen wird. Ich hatte Direktor Duncker bei der Begrüßung getroffen und mein Gedächtnis für Gesichter ist sehr schlecht. Zufällig traf ich dann später auf dem blista-Campus jemanden, der allein unterwegs war. Der große, imposante Herr sagte schlicht „Hallo“ zu mir. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, wer dieser vornehme Herr war. Aber eine Woche später traf ich ihn erneut. Und er winkte mir wieder zu: „Hallo“. Diesmal wollte ich unbedingt wissen, wer er ist. Ich folgte ihm. Und stellen Sie sich vor: Es war Direktor Duncker, der Direktor der blista! Wirklich, ich war so überrascht! Erstens, dass er sich noch an mich erinnern konnte und zweitens, dass er allein auf dem Campus unterwegs war.

In Ägypten gehen hochrangige Herren niemals alleine aus ihrem Büro. Sie werden dann eigentlich immer von den Angestellten begleitet. Ich habe diese Szene ausgewählt, weil sie für mich beschreibt, was Demokratie in Deutschland bedeutet. Dieses Erlebnis kann man in meinem Land erzählen, um klarzustellen, dass wir alle gleich sind. Wir alle sind in der Pflicht, der Einrichtung zu dienen, in der wir arbeiten. Diese Erzählung kann andere anleiten, die Demokratie zu leben, die wir in Ägypten gerade verlieren.

Die zweite Erfahrung bezieht sich auf die blista-Klassen, ja wirklich, auf jede einzelne Klasse. Können Sie sich vorstellen, dass eine Klasse nur neun oder zehn Schülerinnen und Schüler hat, manchmal weniger? Können Sie sich vorstellen, dass alle einen eigenen Laptop besitzen? Können Sie sich gar vorstellen, dass alle Lehrkräfte hinreichend qualifiziert sind, um blinde und sehbehinderte junge Leute zu unterrichten? Können Sie sich vorstellen, dass alle Materialien für die jeweilige Stunde vorab im internen Netzwerk bereitgestellt werden? Können Sie sich vorstellen, dass die Schülerinnen und Schüler, aber natürlich auch alle Lehrkräfte, immer pünktlich sind, selbst wenn das Wetter schlecht ist?

Wenn ich nach Hause komme, werde ich sagen, dass das einfach perfekte Rahmenbedingungen für Bildung sind. Jeder befasst sich nur mit seinen Anliegen. Alle haben eine Aufgabe, die am Ende des Tages erfüllt sein muss.

Die dritte Erfahrung spielt im Labor. Obwohl man für mich eigentlich vorgesehen hatte, Klassen im Englisch-Unterricht zu besuchen, lud Herr Walz mich ein, an einem naturwissenschaftlichen Unterricht in einem Labor zu hospitieren. Das hat mich ungeheuer beeindruckt. Es war verblüffend zu sehen, dass die Schülerinnen und Schüler selbstständig experimentierten. Man kann gut erkennen, dass dafür alles vorbereitet wurde, damit sie die eigenen Sinne einsetzen können. Herr Walz führte mit ihnen Experimente durch, die für sie wahrnehmbar waren.

Das nennt man in meinem Land Barmherzigkeit: Die Schülerinnen und Schüler können nicht sehen, aber sie sind und bleiben gleichberechtigt. Die Lehrkräfte helfen nicht nur, sie kümmern sich auch. Sie kümmern sich um alles, was ihre Klasse betrifft. Sie sind sehr daran interessiert, den Schülern etwas beizubringen und erhalten aus der Klasse dafür Anerkennung.

Die vierte Beschreibung bezieht sich auf die Kaffeepause der Lehrerinnen und Lehrer. Sie ist sehr nützlich und wo auch immer ich an der Uni bislang gearbeitet habe, gab es solcherart Treffen nicht. Das Unglück ist, wenn es eine Zusammenarbeit zwischen Professoren gibt, dann sollen die Studierenden sie gewährleisten und die Verknüpfungen für die Zusammenarbeit herstellen. Das ist sehr schwer. Die Studierenden müssen alles organisieren.

Eine Kaffeepause dagegen ermöglicht viel Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden. Besonders im Hinblick auf die mangelhafte Ausstattung in Ägypten etwa mit Computer, Internet, Braille-Schreibmaschinen etc. wäre eine solche Kaffeepause da sehr nützlich. Aber wir haben darüber noch nicht einmal nachgedacht. Das würde ich als Lösung bezeichnen, die wir bislang nicht angehen. Vielleicht werde ich, wenn ich nach Hause komme, eine Kaffeepause vorschlagen!

Zuletzt möchte ich auf Marburg als Blindenstadt eingehen. Vom ersten Tag an habe ich auf meinem Weg zur blista viele blinde Menschen auf den Straßen wahrgenommen. Ich wunderte mich darüber, dass es so viele waren und über ihre Mobilität. Wie leicht ist ihr Leben mit all der Ausstattung? Du kannst überall blinde Menschen sehen ohne Assistenz, in Bussen, in Restaurants, auf Treppen, in Aufzügen. Ich fragte mich, wer ist dieser kreative Mensch, der ihnen geholfen hat? Und habe drei Monate damit verbracht, die Antwort auf diese Frage zu finden. Es ist ganz einfach das System, die Regierung definiert das System, dem jeder folgen muss, sie bringt Leute dazu, daran zu arbeiten. Jetzt stelle ich mir bezüglich meiner Gesellschaft Fragen und überlege, wie wir damit beginnen können. Es wird eine sehr lange Reise. Wir brauchen Hilfe, zuerst von uns selbst und dann auch von Menschen wie Sie in Marburg. In jedem Fall habe ich während der dreimonatigen Praktikumszeit großartige Einblicke gewonnen, die sich hier nicht alle wiedergeben lassen. Ich bin mir sicher, dass ich sie mit mir trage und mich erinnern werde, wenn ich nach Hause komme. Ich werde vergleichen und versuchen, eine Entwicklung zu starten. Das wird nicht einfach sein, aber versuchen möchte ich es wenigstens.

Abschließend möchte ich mich bei allen Menschen bedanken. Bei den Deutschen in der Deutschen Botschaft meines Heimatlandes, die mich ausgewählt haben, an solch einem großartigen Programm teilzunehmen, bei allen Mitarbeitern dieses Programms in Stuttgart und natürlich bei allen Menschen, die an der blista arbeiten.


Samia Talaat hatte sich über das Cross­Culture-Programm des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) für ein Stipendium in Deutschland beworben, um neue Ansätze und Strategien in den Bereichen Bildung und Menschenrechte kennen zu lernen. ifa stellte daraufhin den Kontakt zum blista-Vorstand her. In Ägypten unterrichtet sie Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung am Noor Center von Beni Suef in Englisch und EDV. Sie ist zugleich Dozentin an der Watani Akademie.