Buchtipps: Herz und Schmerz und dies und das

Cover von „Seit ich Dich gefunden habe”

Winfried Thiessen. Heute habe ich im Angebot den Liebesschmachtfetzen Seit ich dich gefunden habe der englischen Autorin Kat French. Honeysuckle, gerufen Honey – ja, das ist der Name unserer irgendwie alterslosen weiblichen Projektionsfläche, übrigens hören ihre Schwestern auf die Namen Bluebell und Tigerlily – also Honey ist Single, ihre Erfahrungen mit Männern waren bisher unbefriedigend für sie. Bei einer Einkaufstour in einem Sexshop mit ihren beiden besten Freundinnen gesteht sie ihnen, dass sie noch nie einen Orgasmus hatte. Die ihr sofort vorgeschlagenen und dargereichten Hilfsmittel lehnt sie aber dankend ab – und überhaupt ist sie davon überzeugt, dass ihr das Orgasmus-Gen fehle. Natürlich wissen es ihre Freundinnen besser und sinnen auf Abhilfe. Mr. Right muss her, am besten in Person eines Klavierspielers, denn nur kluge, sensible Männer würden sich die Mühe machen, Klavierspielen zu lernen – und sie haben geschickte und flinke Finger. Die beiden Mädels versuchen nun, Honey per Blind Date mit einem Pianomann zu verkuppeln. Was sie noch nicht wissen ist, dass Honey schon längst ein Auge auf ihren neuen Wohnungsnachbarn geworfen hat, der auf den Namen Hal hört. Hal entpuppt sich als wahrer Kotzbrocken mit einem Alkoholproblem, und von Honey will er nichts wissen – jedenfalls benimmt er sich so. Aber irgendwie möchte er ja schon. Honey muss ihn nun davon überzeugen, denn Hal ist durch einen Unfall frisch erblindet und der Meinung, dass da beziehungstechnisch nix mehr zu laufen hat mit so einem blinden Krüppel. Das kann doch nur schiefgehen, denn seine Ex hat ihn schließlich auch wegen seines mangelnden Durchblicks einfach so abserviert. Hal war vor seinem Unfall nicht irgendjemand, sondern ein Starkoch und Adrenalinjunkie – jetzt ist er nur noch blind und versoffen, hat sich aus der Welt zurückgezogen und mimt aus Verzweiflung das Ekelpaket. Honey spürt natürlich, dass hinter der rauen Fassade mehr steckt – und der Kerl hat ja auch eine Wahnsinnsstimme. Und Küssen kann er … zum Dahinschmelzen!! Das alles und noch viel mehr probiert Honey schon mal mit ihm aus. Aber Pustekuchen, von wegen verliebt, verlobt, verheiratet. Jetzt beginnt erst der ganze Hickhack. Hal lebt zwar zurückgezogen, aber er hat eine Vergangenheit, und die taucht in Form seiner Exfreundin auf, also die Bitch, die ihn eben noch abserviert hat, weil mit einem blinden Starkoch hätte sie ihre Träume vom Jetsetleben nicht verwirklichen können, aber jetzt hat sie es sich auf einmal wieder anders überlegt. Hal muss ja nicht kochen, sein guter Name auf dem Restaurantschild würde schon reichen – dieses berechnende Luder. Wir ahnen es: Honey, das nette Mädel von nebenan, wird um ihn kämpfen, aber nicht nur um Hal, auch um ihren Job in einem Altenheim – auch so eine Geschichte. Selbstredend alles mit Happy-End-Garantie. Unterhaltung leicht und seicht, zuweilen etwas frivol. Dieser Liebesroman sorgt mit Sicherheit dafür, dass wir auch weiterhin an das Gute und Schöne im Leben und im Menschen glauben können. Leichte Lesekost zum Träumen und Hirnabschalten.

Cover von „Tage wie Salz und Zucker”

„Haben Sie schon den Roman Tage wie Salz und Zucker gelesen“, wurde ich beim Braille-Festival an meinem Buchstand gefragt. Nein, hatte ich bisher noch nicht. Muss ich wohl irgendwie übersehen haben, denn der Roman ist schon von 2013. Jetzt habe ich ihn gelesen. Kommen wir also zur Urteilsverkündung: Vom Niveau her steht der Roman der Amerikanerin Shari Shattuck dem oben beschriebenen Liebesroman in nix nach. Der Inhalt ist schnell erzählt. Ellen, Anfang 20, putzt in der Nachtschicht in einem Supermarkt, wohnt in einem 1-Zimmerappartement in einer heruntergekommenen Gegend einer amerikanischen Großstadt. Die drogensüchtige Mutter hat sie mit 5 Jahren im Stich gelassen. Es folgten sadistische Pflegefamilien und Heimaufenthalte – also das volle Degenerationsprogramm. Ellen ist im Gesicht vernarbt und fett. Große Mengen Fast Food halten sie psychisch und physisch stabil. Im Lauf der Jahre hat sie es geschafft, sich für ihre Umgebung beinahe unsichtbar zu machen – trotz ihrer enormen Ausmaße –, also eine Außenseiterin par excellence. Durch einen Zufall hilft sie der blinden Temerity (Die Kühne) bei einem versuchten Handtaschenraub aus der Patsche. Und wer hätte es gedacht, die blinde Temerity sieht die „unsichtbare“ Ellen – soll heißen: sie erkennt ihr gutes Wesen. Temerity wohnt mit ihrem Bruder Justice (Der Gerechte) zusammen in einem Loft. Sie ist Geigerin, er werdender Anthropologe. Schnell beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen, da Temerity und Ellen anfangen, sich in das Leben anderer Menschen einzumischen, zu helfen – sie spielen Schicksal, werden zu Rächerinnen der Enterbten. In einer unsolidarischen, ungerechten Welt mangelt es ja auch nicht an potentiellen Problemen und Opfern: Einsamkeit, Überforderung, Vergewaltigung, Raub und Mord – das volle Helferprogramm eben. Temerity ist empathisch und tief humanistisch eingestellt, ebenso wie ihr Bruder. In ihrer beider Hände fängt Ellen an, sich zu entwickeln, die Last ihrer Vergangenheit abzuschütteln – siehe da: ein Entwicklungsroman! Sie lernt, Vertrauen in andere zu fassen, das Leben in die eigene Hände zu nehmen, Freundschaften entstehen. Bald schon können die drei gar nicht mehr aufhören, für andere Leute Schicksal zu spielen. Ellen wächst und wächst – innerlich, denn äußerlich schrumpft sie. Durch Temerity erfährt sie, dass Obst und Gemüse lecker schmecken, und die Warmherzigkeit ihrer Umgebung vertreibt das ständige Hungergefühl. Naive Malerei mit Wörtern, eine Geschichte wie ein Märchen: They all live in Amerika. Amerika is wunderbar! Eine Mischung aus Robin Hood, TKKG, den 3 Fragezeichen, 3 Engel für Charlie und Das hässliche Entlein von Christian Andersen – ja, das Entlein, das am Ende des Märchens zum schönen Schwan wird. Ein herzensguter Roman, genau das Richtige für ein Hirn nach acht Stunden stressiger Büroarbeit im Hochsommer bei schwülen 35 Grad in unklimatisierten Räumlichkeiten.

Cover von „Blindenführhunde”

Auf den (Blindenführ)hund gekommen – Teil 1

Im Angebot habe ich dann auch noch das Sachbuch Blindenführhunde – Kulturgeschichte einer Partnerschaft von Detlef ­Berentzen. Nicht nur die blista feierte 2016 ihren 100-jährigen Geburtstag, auch das professionelle Blindenführhundwesen erblickte vor 100 Jahren das Licht der Welt – beide wohl Kriegskinder. Was wäre ein Jubiläum ohne ein gelungenes Buch?

Der Hund war nicht nur schon immer Begleiter sehender Menschen, sondern auf ­Abbildungen und in der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass er schon sehr früh auch Begleiter blinder Menschen war. So wurde schon im Frankreich der Aufklärung in privaten Kreisen damit experimentiert, Hunde als Führhunde für Blinde nutzbar zu machen. Der Wendepunkt hin zu einer professionalisierten und wissenschaftlichen Herangehensweise an Zucht und Ausbildung war der 1. Weltkrieg. Im Jahre 1916 wurde in Deutschland der erste professionell ausgebildete Führhund seinem kriegsblinden Besitzer überreicht.

Berentzen beschreibt die Entwicklungen des Blindenführhundwesens der letzten hundert Jahre in Deutschland – mit zahlreichen Abstechern in Nachbarländer und auch über den großen Teich. Der Autor macht deutlich, dass sich über einen langen Zeitraum das Blindenführhundwesen in Deutschland im Windschatten von Krieg und Gewalt entwickelt hat, und dass seine Professionalisierung in erster Linie einer barbarischen Kriegsführung geschuldet war. Deren Opfer, die zugleich auch Täter waren, wurden nun auf Staatskosten mit Blindenführhunden versorgt, während der Friedensblinde bei der Zuteilung zunächst nicht berücksichtigt wurde. Auch die Initiatoren und das leitende Personal der neuen Hundeschulen waren weniger Humanisten als Propagandisten für weitere Kriege und bandelten schon früh mit dem Nationalsozialismus an. So wird aus der Kulturgeschichte der Blindenführhunde auch eine Geschichtsstunde über die politischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Detlef Berentzen schreibt sachlich und meist angenehm kritisch. Er arbeitet auch alle wesentlichen Konfliktlinien heraus: Art und Qualität der Ausbildung des Hundes, nationale Eitelkeiten, Kriegs- und Zivilblinde, die Verwicklungen vieler, die sich um das Blindenhundwesen verdient gemacht haben, in Kriegs- und Deutschtümelei und, und, und… Berentzen kritisiert auch vehement den Missbrauch der Hunde bei Einsatz und Ausbildung, der bis in die Gegenwart hinein mit dem besten Freund des Menschen betrieben wurde. Und - gerade die reiche Bundesrepublik ist bei der Ausbildung von Blindenführhunden alles andere als vorbildlich. Natürlich kommt auch der subjektive Faktor nicht zu kurz, sprich, das Verhältnis Blindenführhund zu seinem Gespannführer bzw. umgekehrt. Wer sich für Hunde im Allgemeinen und Blindenführhunde im Besonderen interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen.

Cover von „Ich sehe was, wie du nicht siehst”

Auf den (Blindenführ)hund gekommen– Teil 2

Manuela Gehlenbeck will ihrem Leben mit einem Blindenführhund neue Mobilität verleihen, ihren Aktionsradius erweitern, unabhängiger von sehenden Begleitern werden und ihre vom vielen Pendeln mit dem Blindenstock schmerzende Schulter entlasten. Welche Auswirkungen diese Entscheidung auf ihren Alltag hat, beschreibt sie in Ich sehe was, wie du nicht siehst. In der Hauptrolle: Gehlenbecks erster Blindenführhund Bogart, ein schwarzer Pudel, denn ein Pudel musste es wegen ihrer Tierhaarallergie unbedingt sein. Es ist die herzerwärmende Geschichte einer Partnerschaft zwischen Mensch und Tier. Der Leser bekommt allerdings nicht nur Gefühle geliefert, sondern auch mehr als nur eine Ahnung davon, welche Arbeit und welcher Zeitaufwand in einer guten, modernen und vor allem gewaltfreien Blindenführhundausbildung steckt. Interessant vor allem für jemanden, der vielleicht selbst mit dem Gedanken spielt, sich irgendwann einmal einen Blindenführhund anzuschaffen, und ihn bisher nur als eine Art Hilfsmittel oder gar als bloßes Arbeitsgerät betrachtet, Gehlenbeck wird ihn eines Besseren belehren. Sie schildert eindrücklich, welcher Anstrengung es bedarf, eine gute Gespann-Führerin zu werden, aber auch welche Freude es ihr bereitet, mit einem Hund zusammenzuarbeiten und mit ihm zu leben. Und nicht zuletzt, was es bedeutet, wenn das neue Familienmitglied einmal ernsthaft erkrankt, dann wird er zur zeitlichen (Tierarzt, Krankenpflege) aber auch zu einer emotionalen Belastung – und er fällt vor allem als Führhund aus. Von all dem erzählt diese ganz persönliche Geschichte, die mit Bogarts verfrühtem Tod endet. Eine bewegende Geschichte, die man auf jeden Fall lesen sollte, bevor man sich für einen Blindenführhund als Mobilitätshilfe entscheidet. Und – einen Vorrat an Taschentüchern sollte man auf jeden Fall in der Nähe haben.

Cover von „Einfach geradeaus”

And now for something completely different

Last but not least das Buch von Rüdiger Leidner Einfach geradeaus? Leidner, Jahrgang 1950, ist mit 15 Jahren erblindet. Der Leser erhält in Leidners autobiografischer Erzählung Auskunft über seine Zeit an der blista, sein Studium in Marburg und sein Auftreten als erster Blindenstockgänger in der Stadt; er berichtet über seine vielen beruflichen Umzüge und Stationen in seinem Erwerbsleben: Köln, Bonn, Berlin, Brüssel und wieder Berlin; er informiert über Mobilität, Kommunikation, Hilfsmittel, Blindenführhunde, Barrieren in Ausbildung und Beruf, Ehrenämter, Inklusion, Freizeit, Urlaub, Sport – in einem Schnelldurchlauf hakt Leidner die einzelnen Stationen seines Lebens ab und beschreibt darüber seine Alltagsbewältigungsstrategien als Blinder. Diese Vorgehensweise hat Vor- und Nachteile. Sie gibt einen soliden Überblick, da dadurch sehr viele Teilbereiche des Alltags eines blinden Menschen angeschnitten werden können. Dabei überwiegt bei Rüdiger Leidner meist ein sachlich un­aufgeregter Ton, und hin und wieder blitzt hintergründiger Humor auf, mit dem man ­sicherlich so manche Passage einer „anekdotischen“ Tieferlegung hätte unterziehen ­können, denn an vielen Stellen hätte ich gern mehr erfahren: sei es zu seiner Einstellung und Meinung zu Themen wie Inklusion, Chancengleichheit oder der Vorbereitung blinder Jugendlicher auf ein Berufsleben in der Welt der Sehenden, sei es zu seinen Erfahrungen mit dem Umgang seiner Kollegen und Vorgesetzten mit ihm, dem blinden Mitarbeiter, oder über das von ihm beschriebene Gefühl der Fremdheit als Blinder in der Berufswelt – vieles wovon er berichtet, hätte eine nähere Betrachtung verdient gehabt.

Leidners Vita ist beeindruckend, aber er eilt in Siebenmeilenstiefeln durch selbige: 65 Jahre, intensive Jahre, auf 135 Seiten, da hätte ich mir doch an manchen Stellen ein Innehalten gewünscht. Das Buch ist ein guter erster Wurf, vielleicht sollte ihm ein zweiter folgen.