Zeitenwende – vom Leben nach der blista

Viele Wege führen nach … – ja wohin eigentlich? 

Anna Rehm, Abitur 2014 | Ich heiße Anna Rehm, bin 28 Jahre alt und habe 2014 mein Abitur an der Carl- Strehl-Schule in Marburg erfolgreich absolviert. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade einmal 19 Jahre alt und ja, ich dachte damals, ich wüsste so ziemlich genau, welchen Weg ich nach meiner blista-Zeit einschlagen würde. Aber wie heißt es so schön: Nachher ist man immer klüger. Dies ist meine Geschichte. 

Mein Lehramtsstudium 

2011 kam ich von der Förderschule in Soest zur Klasse 11 zur Carl-Strehl-Schule mit der Diagnose Morbus Stargardt und einem Sehrest von fünf Prozent. Bei meinem Abschied 2014 waren es noch zwei Prozent wahrscheinlich stabiler Restsehkraft. Damit schienen mir meine Möglichkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Berufslaufbahn doch ziemlich begrenzt. Meine Interessen lagen eher im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich. Gerne hätte ich einen Weg in diese Richtung eingeschlagen und ein Medizinstudium oder eine Ausbildung im medizinischen oder gar pharmazeutischen Bereich begonnen, doch mit meiner Sehbehinderung war dies keine wirkliche Option für mich. Während der Schulzeit habe ich Nachhilfe in Mathematik gegeben und mir wurde sowohl von Lehrer*innen und Freund*innen als auch von meinen Eltern rückgemeldet, dass mir das Unterrichten läge. Es war für mich somit naheliegend, dieses mir zugeschriebene Talent bei meiner Zukunftsplanung zu berücksichtigen. Und so fiel meine Wahl auf ein Lehramtsstudium in den Fächern Mathematik und Biologie. Diese beiden Fächer haben mir auch in der Oberstufe als Leistungskurse sehr gelegen. 

Was den Studienort anging stand für mich schnell fest, dass ich wieder in die Nähe meines Elternhauses ziehen wollte. Ich bewarb mich folglich an verschiedenen Universitäten in Nordrhein-Westfahlen. Letztlich fiel meine Wahl auf die Ruhr-Universität-Bochum (RUB). 

Mein Traum von einem Studium war nun für mich ein ganzes Stück näher gerückt. Gleich zu Beginn gab es aber bereits den ersten Wermutstropfen. Ein Warnsignal, das ich aber zunächst ignorierte. Wie ich es in meiner Schulzeit beigebracht bekommen hatte, habe ich mit meinen Dozent*innen vor Beginn der Vorlesungen und Laborstunden das Gespräch gesucht. Viele dieser Gespräche liefen durchaus positiv ab, abgesehen von ungläubigen Blicken oder dem ein oder anderen Laientest im Sinne von: „Wie viele Finger zeige ich Ihnen gerade?“ Die erste Begegnung mit meiner Laborleiterin für das Laborpraktikum zum Thema Zoologie hatte es dann jedoch in sich. Hier sollte vor allem das Sezieren von verschiedenen Tieren im Vordergrund stehen und sofort war für sie klar: „Sie haben in meinem Labor nichts zu suchen. Sie können sich gleich am Montag wieder exmatrikulieren, in mein Labor kommen sie nicht!“ Harte Worte. Dennoch kein Grund für mich gleich aufzugeben. Ich begab mich zwar am darauffolgenden Montag in die Verwaltung, jedoch nicht um meine Exmatrikulation zu beantragen, sondern um den Schwerbehindertenbeauftragten aufzusuchen.

Mit seiner Hilfe gelang es mir, mit Unterstützung durch meine Studienassistenz und speziellen, über den Fachbereich besorgten Hilfsmitteln, wie ein Mikroskop mit externem Bildschirm, am Laborpraktikum teilzunehmen. Anfangs lief es auch recht gut, aber ich musste feststellen, dass nicht nur diese eine Dozentin der Meinung war, dass ich in ihrem Reich nichts verloren hätte. Doch ich blieb hartnäckig. Allerdings tat sich eine weitere Baustelle auf: Im zweiten Semester wechselte ich von der Mathematik in die Erziehungswissenschaft - in NRW ist das ebenfalls ein Unterrichtsfach, ähnlich dem Fach Sozialwissenschaft in Hessen. Ein Grund für den Wechsel war, dass ich den durchaus anspruchsvollen Vorlesungen in Mathematik nicht „just in time“ folgen konnte, sondern mich erst im Nachhinein an den Notizen, die meine Assistenz von der Tafel abgeschrieben hatte, wirklich orientieren konnte. Ein Umstand, der mich auf Dauer überfordern würde. Aber noch war ich ja weiterhin Lehramtsstudentin. In Biologie lief es bis zum 4. Semester auch ziemlich gut, doch dann kam eine Prüfung, die mich vor eine ganz neue Herausforderung stellte. Eine schriftliche Bestimmungsprüfung wurde mangels Umsetzbarkeit in eine mündliche Prüfung für mich umgewandelt und man verlangte, dass ich Dinge, die die anderen Studierenden während der Prüfung einem Buch entnehmen durften, gänzlich auswendig konnte. In meinen Augen eine Unverschämtheit, doch leider zulässig. Also versuchte ich ganze zweimal diese Prüfung zu bestehen, leider ohne Erfolg. Hätte ich jetzt die Reißleine ziehen müssen?

Im 5. Semester suchte ich mir einen Job als Werksstudentin im IT.SERVICES, der IT-Abteilung der RUB, um meine Eltern finanziell zu entlasten. Dort habe ich im First Level im Kundendienst gearbeitet, also Studierende, Mitarbeiter*innen und Professor*innen betreut, ihnen bei technischen Problemen wie Einloggen in die Mailadresse, bei Berechtigungen etc. geholfen. Ganze zwei Jahre arbeitete ich dort auf 12-Stunden-Basis, lernte nette Kommiliton*innen kennen und verdiente mein erstes eigenes Geld, wodurch mir nun langsam dämmerte, dass Studieren ohne Praxis für mich nichts ist. Ich wollte viel lieber das Gelernte gleich umsetzen, die Früchte meiner Arbeit sehen und in den Händen halten können. Der Traum von einem Lehramtsstudium begann immer mehr zu verblassen und nach dem achten Semester habe ich mich endgültig exmatrikuliert - die bis dahin schwierigste Entscheidung meines Lebens. Noch heute höre ich viele Stimmen sagen: „Tu das nicht, das sieht niemals gut aus in einer Bewerbung.“ 

Mein Duales Studium beim Finanzamt 

Und ja, es gab Fragen bei jedem Vorstellungsgespräch, doch habe ich schon früh gelernt: Ehrlich währt am längsten! Und so war ich ehrlich und fand schon bald einen Studienplatz für ein duales Studium beim Finanzamt. Dieses Studium versprach mir alles, was ich mir gewünscht hatte. Ich durfte weiter mit Zahlen jonglieren, konnte studieren, aber auch gleich die Praxis dazu kennen lernen und würde auch von Beginn an eigenes Geld verdienen. Allerdings stand ich wieder schnell vor einem Problem, welches mir bekannt vorkam. Wie auch schon im ersten Studium wandte ich mich gleich zu Beginn an die Dozent*innen und die Verwaltung zur Beantragung von Hilfsmitteln und Nachteilsausgleich. Komischerweise war der kostenaufwendigste Teil, die Beschaffung technischer Hilfsmittel, nie ein Problem, doch wieder scheiterte ich am menschlichen Faktor. Meine Ärztin bescheinigte mir einen zeitlichen Nachteilsausgleich von 50 Prozent Zeitzugabe. Dies hielt man jedoch für utopisch, für einen (ungerechten) Vorteil gegenüber den anderen. Also gewährte man mir gerade einmal knappe 30 Prozent Zeitzugabe und nahm auch keine Rücksicht darauf, dass Gesetzestexte bei Prüfungen nicht in digitaler Form von mir genutzt werden durften, um potentiellen Betrugsversuchen vorzubeugen.

Trotz Gesprächen mit den Dozent*innen, der Verwaltung und dem Finanzamt, welches mich bei sich angestellt hatte, fanden wir keine praktikable Lösung und die Zwischenprüfung ergab ein niederschmetterndes Ergebnis! Wieder war ich aufgrund von Barrieren in Form von fehlenden administrativen Rahmenbedingungen in einer Sackgasse gelandet. Barrierefreiheit für Menschen mit einer Seheinschränkung bedeutet eben mehr als nur das bloße Vorhandensein eines Fahrstuhls mit Punktschriftbeschriftung und Stockwerkansage. Soviel zum Thema Inklusion. Erstmals in meiner beruflichen Karriere kam nun das Thema Ausbildung auf den Tisch. Mein zuständiges Finanzamt beriet mich in Richtung Ausbildung zur Finanzwirtin im Finanzamt, doch genau zu diesem Zeitpunkt kam Corona. 

Schloss Nordkirchen bei Nacht. Das Schloss ist der Sitz der Hochschule für Finanzen Nordrhein-Westfalen.
Schloss Nordkirchen, NRW

Bundesagentur für Arbeit 

Es hätte keinen unpassenderen Zeitpunkt für die Pandemie geben können. Mir wurde kein Vertrag für die Ausbildung angeboten, da man nicht sicherstellen konnte, wie es weitergehen würde mit der Pandemie und so wurde ich arbeitslos. 

Zu diesem Zeitpunkt lebte ich bereits mit meinem Verlobten und unseren drei Katzen zusammen und schnell war klar, selbst mit Arbeitslosengeld würden wir es kaum über die Runden schaffen, da auch mein Verlobter zu diesem Zeitpunkt eine neue Ausbildung begonnen hatte. Also durchforstete ich die Jobportale, führte unzählige Telefonate mit Ämtern und bewarb mich auf einige Jobs in Callcentern. Einer der wenigen Arbeitsbereiche, die unter der Pandemie nicht allzu stark gelitten hatten. Ich hatte Glück, fand schnell einen Job und durfte schon nach knapp zwei Monaten aus dem Home-Office arbeiten. Doch sowohl der Job als auch unsere private Situation in einer zu kleinen Wohnung, kostete mich viele Nerven und ich steuerte in eine Depression, die mich noch immer teilweise in meinem Leben begleitet. 

2021 gab es endlich wieder einen Lichtblick. Ich bewarb mich zu dieser Zeit auf verschiedene Ausbildungen, da ich das Thema Studium für mich abgehakt hatte. Letztendlich wurde ich in der Bundesagentur für Arbeit in Dortmund angenommen. Am 01.09.2021 begann ich dort meine Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen. Sollte es diesmal endlich klappen? Gleich zu Beginn der Ausbildung stellte ich natürlich meine Fragen, jedoch längst nicht mehr so hoffnungsvoll wie noch vor einigen Jahren: „Welche Ausstattung kann ich bekommen?“ oder „Wo beantrage ich meinen Nachteilsausgleich für Klausuren?“. Völlig selbstverständlich wurde mir Freundlichkeit und Vertrauen entgegengebracht. Das Arbeiten wurde mir komplett in digitalisierter Form ermöglicht, auch bei Klausuren und bei der Arbeit mit Gesetzestexten. Immer wieder fand ein enger Austausch statt. Mein Arbeitsplatz wurde nach meinen Wünschen und Vorstellungen eingerichtet und bei mir entwickelte sich langsam das Gefühl, endlich im Berufsleben angekommen zu sein. Aktuell bin ich im dritten Lehrjahr meiner Ausbildung und habe 2024 meine Abschlussprüfungen. Ich bekomme weiterhin jede Unterstützung, die ich brauche, und kann mich jederzeit an meine Ansprechpartner*innen wenden. 

Resümee 

Der Weg bis zu diesem Punkt in meinem Berufsleben war lang und steinig, viele strukturelle Barrieren und so manche Barrieren in den Köpfen der Menschen in entscheidenden Stellungen haben mir meinen Weg unnötig schwer gemacht. Es gab viele Momente, an denen ich gerne aufgegeben hätte, doch im Nachhinein bin ich froh, diesen Weg beschritten und durchgehalten zu haben. Ich konnte viele Erfahrungen mitnehmen, habe viele Menschen kennengelernt und habe vor allem im privaten Bereich sehr viel Glück gehabt. Im Dezember 2022 habe ich geheiratet und mein Mann hat mich auch in den schwersten Zeiten immer unterstützt, wofür ich ihm endlos dankbar bin. Auch meine Eltern und meine Freunde waren immer für mich da und gaben mir viele Denkanstöße. Wie heißt es in einem bekannten Song: „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer.“ Vor neun Jahren, am Ende meiner blista-Zeit, hätte ich niemals gedacht, dass mein Weg so steinig und so schwer sein würde. Aber im Nachhinein denke ich: Das Kartenhaus darf einmal oder auch mehrmals zusammenbrechen, solange man die Möglichkeit bekommt und gewillt ist aus seinen Fehlern zu lernen, nicht gleich aufgibt und sich dabei weiterentwickelt. 

Mein Rat also: Probiert euch aus! Bei wichtigen Entscheidungen geht in euch, denkt ruhig auch zweimal darüber nach. Es heißt nicht umsonst: „Es ist nicht alles Gold was glänzt.“ Überlegt euch also genau, ob ihr der Typ für ein „goldenes“ Studium seid oder doch eher eine Ausbildung machen solltet. Ich persönlich hätte mir im Nachhinein jedenfalls gewünscht, dass während meiner Schulzeit der Fokus öfter auch mal auf die Möglichkeit einer Ausbildung gelegt worden wäre. 

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Noch mehr Zeitenwende

Mehr Erfahrungsberichte vom Leben nach der blista gibt es im Sammelband als barrierefreies PDF. Bei Interesse gerne eine E-Mail an blistaNews@blista.de.