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Heute: Another Day in Paradise
Von Winfried Thiessen | Das kennst du doch sicher auch, dieses ewige Gejammer bei der Zeitumstellung im Frühjahr? Da gibt es die einen, die nach hundert Jahren immer noch nicht wissen, ob sie die Uhr vor- oder zurückstellen müssen, und dann sind da noch diejenigen, die der verlorenen Stunde hinterher heulen, weil sie früher aufstehen müssen. Leute, Sommerzeit, an den Abenden ist es jetzt länger hell! Ist doch super, und du darfst eine Stunde früher ins Bett gehen. Einer von diesen Heulern ist mein guter Bekannter, der Herr W, jedenfalls nicht. Der wartet damit, also mit dem Gejammer, bis zur Winterzeitumstellung, also der Rückabwicklung der Sommerzeit. Urplötzlich wird es schon um sechs Uhr dunkel und dann kommt es täglich noch schlimmer. In seinen Nachtdiensten muss er jetzt eine Stunde länger gegen die Müdigkeit ankämpfen und es sind immer noch vier Wochen bis zu den Weihnachtsferien. An manchen Tagen kriecht er abends auf dem Zahnfleisch, an anderen macht er auf Verbrüderung mit einer ausgepressten Zitrone, es fehlt ihm einfach an Saft für die letzten Meter, dabei ist er doch im besten Mannesalter. Kennst du das auch? Du schlägst in der Vorweihnachtszeit im Nachtdienst die Bettdecke zurück, willst dich völlig erledigt hinlegen, schaust rein zufällig noch mal auf den Wecker und stellst fest: erst 20:30. Jetzt pass auf: In einem seiner Vorweihnachtszeitnachtdienste hatte mein guter Bekannter, der Herr W, dann diesen Traum. Er wandelt darin durch einen endlos langen Flur. An seiner Seite sein persönlicher Begleiter. Den kennt er zwar nicht, den hat er auch noch nie zuvor gesehen, aber das stört in einem Traum meist nicht wirklich. Er geht vorbei an unzähligen Türen, bis sie vor einer Tür mit der Nummer 32 stehen bleiben. „Was für ein Zufall!“, denkt sich da mein guter Bekannter, „Die 32! In der Wohngruppe, in der Biegenstraße 32 arbeite ich seit fast drei Jahrzehnten.“ Neugierig, wie er nun mal ist, öffnet er die Tür und steht auch schon in der Küche seiner blista-Wohngruppe. Du siehst: ganz schlimm, selbst im Schlaf - immer im Dienst. Der Sandwichtoaster steht, wie gewohnt, links neben der Küchentür, dahinter Mikrowelle und Kaffeemaschine, daneben sein Espressokännchen und der Milchaufschäumer, also die wichtigsten Arbeitsutensilien fein säuberlich angeordnet auf ihren Plätzen, ebenso die vergilbten Postkarten an den Hängeschränken, die dort schon seit einer Ewigkeit kleben:
Engel sind auch nur so 'ne Art Geflügel.
Sein Begleiter schmunzelt, als er die Karte entdeckt. Herr W schlendert zum Fenster. Der Ausblick, wie immer an sonnigen Sommertagen grandios: üppiges, sattes Grün im Garten, darüber thront das Marburger Schloss und über allem ein tief blauer Himmel, quasi ein Bild wie aus einem Reiseprospekt – Summerfeeling pur. Herr W versucht das Fenster zu öffnen, aber der Griff lässt sich keinen Millimeter bewegen. „Der Ausblick ist nur eine Projektion. Sie müssen sich das wie einen digitalen Bildschirm vorstellen, also so ungefähr. Ist alles nur in Ihrem Kopf, haben wir aus Ihren Lieblingserinnerungen zusammengebastelt. Ihre individuell maßgeschneiderte Ewigkeit! Fühlen Sie sich hier ruhig wie zuhause!“ Da kannst du dir vorstellen, dass da meinem guten Bekannten normalerweise so ziemlich alles aus dem Gesicht gefallen wäre, aber im Traum blieb er völlig relaxed. „Wissen Sie, unsere Kreativabteilung hat in den blista news geblättert und ist auf ihren Arbeitsalltag gestoßen: Sie sitzen da immer am Küchentisch, schauen entspannt aus dem Fenster, den Cappuccino vor sich, der Blick gen Schloss gerichtet – und da dachten wir: Küche, Kaffee und so ein Panorama, dass wäre perfekt für ihn … Oh, Moment, es hat gerade geklopft. Ich muss mal eben an die Küchentür. Wir haben da nämlich noch eine kleine Überraschung für Sie vorbereitet.“
Schweißgebadet und völlig traumatisiert erwacht Herr W kurz darauf in seinem Bett im Betreuerzimmer und ihm war sofort klar: Junge, du bist urlaubsreif, aber so was von!
Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass er groß über den Traum nachgedacht hat, sonst wäre er vielleicht zu der Erkenntnis gekommen: „Eigentlich doch eine ganz geile Idee. Kann mir sehr gut vorstellen, mit meinen beiden Kollegen die Ewigkeit zu verbringen.“ Das war jetzt natürlich nur ein kleiner Scherz von mir. Aber vielleicht etwa so: „Kann mir vorstellen, mit meinen Kollegen die Ewigkeit zu verbringen, wenn sie stumm sind oder ich taub bin, dann ginge das vielleicht schon in Ordnung – aber das mit der Küche ist zumindest ganz o.k.“ Natürlich hat er seinen Traum gleich am nächsten Morgen seiner Kollegin und seinem Kollegen, beides langjährige Weggefährten, unter die Nase reiben müssen. Und siehe da, ein wenig erstaunt war er dann schon, als die beiden ihm im Anschluss beichteten, dass auch sie schon so ähnliche Träume gehabt hatten. Nur dass in ihren Träumen er, also mein guter Bekannter, der Herr W, die Überraschung war. Jetzt ist Herr W ja im Nachhinein dann doch noch über seinen Traum ins Grübeln gekommen und hat sich gefragt: Warum anscheinend nur er im Dienst von Alpträumen geplagt wird, seine beiden Kollegen hingegen nicht? Du siehst, selbst Herr W weiß auch nicht immer auf alle Fragen des Lebens eine Antwort, schon gar nicht in der Vorweihnachtszeit.