Essen, Anziehen, Schuhe binden ...

•	In der Schulungsküche der blista üben sich ein Vater und eine Mutter unter der Augenbilde am Ertasten von bunten Bechern und Besteck
Woran lassen sich die unterschiedlichen Gegenstände gut erkennen?

Wie kann ich mein blindes Kind dabei unterstützen? LPF-Elternseminar der BEBSK an der blista

Julia Wolfertstetter | Ende November letzten Jahres fand wieder eines der absoluten Highlights in unserem Vereinsprogramm statt: das Marburger Elternseminar mit Dr. Werner Hecker, dem Leiter der Rehabilitationseinrichtung und des Psychologischen Dienstes der blista. Wir, das waren diesmal sechzehn Mamas und Papas von blinden Kindern zwischen 4 und 10 Jahren, scheuten die zum Teil sehr lange Anreise nach Marburg nicht und wurden reich belohnt mit zahlreichen hilfreichen Tipps und Tricks zu „Essen, Anziehen, Schuhe binden.“

•	Dr. Hecker steht unter der Augenbinde im Konferenzraum und schließt den Reißverschluss einer Jacke.
Wie schließt man einen Reißverschluss?

Wie sollen unsere Kinder so selbstständiger werden?

In unserer kurzen Vorstellungsrunde stellte sich schnell heraus: wir alle sehen uns täglich konfrontiert mit der Frage, wie wir unsere Kinder dazu befähigen können, im Alltag eigenständiger zu werden. Viele von uns ertappen sich auch oft dabei, Arbeitsschritte für das Kind zu übernehmen, weil sie uns im Alltag einfach schneller von der Hand gehen. Ich selbst ziehe meinem 5-Jährigen immer noch die Socken und Schuhe an und helfe ihm in den Pulli. Den Reißverschluss seiner Jacke mache auch ich zu, in der Früh muss es schnell gehen. Aber diese Gewohnheit hat dazu geführt, dass er sich schon dran gewöhnt hat und allmählich auch einfordert, dass ich ihn anziehe und gar keinen Versuch mehr unternimmt, den Reißverschluss selbst zuzuziehen. Wie soll er so selbständiger werden? Ich bin sicher, wenn wir alles für unsere Kinder übernehmen, entgehen ihnen wertvolle Fertigkeiten und Kompetenzen, welche sie eigentlich gut erlernen und ausführen können. 

Zum Selbertun müssen laut Dr. Hecker aber zunächst folgende Fragen beim blinden Kind geklärt werden. Es muss zunächst einmal wissen, wo sich die Dinge befinden. Dafür sind gewisse Taststrategien von Nöten. Des Weiteren muss es Gegenstände identifizieren und unterscheiden können. Vorankündigungen unsererseits helfen unserem Kind, das Vorwarnzeichen nicht sehen kann. „Wenn du diese Bewegung weiter machst, schüttest du neben das Glas“ kann beim Einschütten hilfreich sein und nicht demotivieren.

Perspektivwechsel ist das A und O

Erst wenn ich verstehe, von welcher Realität das Kind ausgeht, und meine Erklärung da ansetzt, kann diese Erfolg haben. Um uns dies zu verdeutlichen, bat uns Herr Dr. Hecker zu einem Experiment unter der Augenbinde. Wir wurden zunächst einzeln in einen Raum geleitet und sollten dann mit den anderen unter der Augenbinde frühstücken. Das war eine erkenntnisreiche Erfahrung. Wer hätte gedacht, wieviel Konzentration ein Frühstück doch erfordert. Wie leer und nichtssagend Wörter wie „hier, dort, den, so“ doch sind. Wie gering unsere Bereitschaft war, uns was aufs Brot zu schmieren oder in den Mund zu stecken, von dem wir eigentlich nicht wussten, was es war. Und vor allem, wie sehr uns unsere Erfahrung dabei geholfen hat, eine Frischkäsepackung vom Butterblock zu unterscheiden.

Schuhe binden unter der Augenbinde: Zwei Hände halten die Schnürsenkel eines Sportschuhs in den Fingern.
Wie geht eine Schleife?

Aha-Erlebnisse, Begriffsbildung und Bewegungssteuerung

Unsere Erfahrung liefert uns wichtige Vorinformation und ermöglicht das gemeinsame Verständnis auf einen Begriff, den wir verwenden. Um sich also Wasser einschenken zu können, muss das Kind zunächst eine Wasserflasche und ein Glas identifizieren können.

Neben dieser Begriffsbildung ist auch die Fähigkeit zur Bewegungssteuerung eine unbedingte Voraussetzung zum Erlernen neuer Fähigkeiten. Wenn z.B. ein Kind von früher Kindheit an beim Essen schräg vor den Eltern auf dem Schoß sitzt, bekommt es viel mehr mit. Es kann vor sich die Schüssel ertasten und spürt beim Gefüttertwerden die Bewegung des Armes sowie das Führen des Löffels. Das ist viel informativer als wenn plötzlich der Löffel am Mund auftaucht, Essen reinschiebt und wieder verschwindet. Der Erwerb einer Fähigkeit geht also schon weit vor der tatsächlichen Ausführung der Handlung los.​

•	Auf einer Arbeitsfläche der Schulungsküche liegen verschiedene taktile Materialen, darunter ein fühlbarer Raumplan und ein Beschriftungsgerät.
Mit welchen taktilen Materialien kann ich mein Kind unterstützen?

Mach den letzten Schritt zuerst

Des Weiteren müssen wir wissen, was wir von unserem Kind schon verlangen können und was nicht. Welcher Handgriff muss schon sitzen, bevor ich vom Kind eine Aktion fordern kann? Ist das Kind in der Feinmotorik so weit, einen Schnürsenkel mit Daumen und Zeigefinger festzuhalten und zu kreuzen? Erst wenn der erste Schritt möglich ist, kann es weitergehen. Um ein Kind aber schon vorab in so viele Handlungen wie möglich miteinzubeziehen, rät Dr. Hecker, das Kind zunächst immer den letzten Schritt machen zu lassen. So haben die Kinder ein Erfolgserlebnis und bleiben motiviert, mitzumachen. Wie schwierig die Vermittlung einer Handlungskette wie z.B. Knoten binden, Reißverschluss schließen, Pullover an-ziehen ist, erfuhren wir in der zweiten Gruppenarbeit am eigenen Leib. Wieder unter der Augenbinde sollten wir uns auf eine Handlungsanweisung für eine für uns banale Tätigkeit einigen. Das Bei-bringen einer jeden Fertigkeit setzt eine kleinschrittige Handlungsanalyse voraus. Natürlich wissen wir alle, wie man einen Knoten bindet, aber sind wir uns wirklich aller einzelnen Arbeitsschritte bewusst? Laut Herrn Dr. Hecker erkennt man das nur, wenn man es selbst unter der Augenbinde probiert. Mit ähnlichen Aha-Erlebnissen ging es am nächsten Tag weiter. In Kleingruppen wurden uns von Herrn Dr. Hecker und seinen Kolleg*innen verschiedenste Tricks und Hilfsmittel vorgestellt Am Nachmittag erläuterte uns Rechtsanwalt Dr. Michael Richter den langen Weg bis zur aktuellen Rechtsauslegung so-wie die neuen Möglichkeiten durch das Bundesteilhabegesetz in Bezug auf LPF. Neben den rechtlichen Themen zu Anträgen für Hilfsmittel und Kursen beantwortete er bereitwillig sämtliche Fragen mit rechtlichem Hintergrund. Das Seminar war eine durch und durch gewinnbringende Veranstaltung, die ich jedem wärmstens empfehlen kann!