Winnis Welt

Bedemeisterstation an einem Sandstrand

Heute: berufliche Inklusion

Winfried Thiessen

Einmal Mallorca …

Du kennst doch sicher auch dieses Bild von dem Esel, dem man eine Möhre an einer Rute vor die Nase gebunden hat, damit er weiterläuft und nicht irgendwann auf den Gedanken kommt: Leute, echt, jetzt ist auch mal gut damit, bin doch nicht euer Schleppdepp. Aber mit Möhre, quasi ein lebendes Perpetuum Mobile, immer am Weitermachen. Herr W, also der mit den visuell herausgeforderten Pubertären, braucht seine Möhre auch. Er bucht immer schon im Spätherbst seinen Osterurlaub, damit seine Psyche sich in der dunklen Jahreszeit als nicht allzu störrisch erweist. Allerdings war diesmal sein Urlaub auf Mallorca zumindest wettertechnisch ein absoluter Reinfall, quasi Verlängerung des deutschen Winters. Regen und Sturm, tagelang, alles grau in grau und da hat er sich schon gefragt, wo er denn nur bleibt, der versprochene Klimawandel. Zum Glück weiß man so etwas erst im Nachhinein. Also diesmal nix mit Pool und Lesen. Stattdessen wandern am menschenleeren Strand. Und da war er ganz baff, dass die Insel doch so viel mehr zu bieten hat als Sonne, Meer und Strand, gerade für Menschen mit Behinderung. Da hat er tatsächlich in Bereichen barrierefreie Arbeitsplätze entdeckt, wo man bei uns nicht mal ansatzweise auf die Idee gekommen wäre. Da musste er auch gleich zum Beweis Fotos von einem dieser Arbeitsplätze für Bademeister mit Handicap machen, zwecks Inspiration – weil, Deutschland ist ja gegen Mallorca anscheinend ein Entwicklungsland in Sachen Inklusion, wie er jetzt feststellen musste. Und da kannst du es selbst sehen: So simpel kann Inklusion gestaltet werden. Statt einer Leiter baust du einfach eine Rampe an den Lifeguard-Beobachtungsturm und schon kann sich jetzt auch jeder Rollstuhlfahrer auf den Posten eines Baywatchers bewerben. Jetzt schaust du da vielleicht erst mal etwas skeptisch, klar. Aber du musst auch immer mitdenken, dass du dich ja im Urlaub befindest, also Entspannung und Entschleunigung, easy living. Auch klar, dass das mit der Rettung im Notfall schon mal etwas länger dauern kann - aber denk immer dran: Du hast Ferien, du hast Zeit und auch keine dringlichen Termine! Da muss du dann nicht gleich hektisch im Wasser herum platschen, nur weil du mal eben den Boden unter den Füßen verloren hast, kein Land mehr siehst, du beim Seepferdchen durchgefallen bist und jetzt nicht gleich, wie auf Kommando, jemand zur Stelle ist – das ist typisch deutsch, alles muss immer zack-zack gehen! Im Urlaub kannst du dich auch mal in Gelassenheit üben und versuchen, Ruhe zu bewahren und dich nicht aufführen wie zuhause. Aber wenn du unbedingt ein höllisch lautes Gezeter machen musst, da haben die ja bei der Inklusion an alles gedacht, weil, der Rollifahrer ist ja nicht allein, der hat sicher einen blinden Assistenten, der nach Gehör arbeitet – also, keine Panik und denk dran: Immer Kopf hoch! Du siehst, wenn du exotische Länder bereist, kannst du auf jeden Fall was dazu lernen – wie zum Beispiel, dass Barrieren meist nur in deinem Kopf existieren.

… und zurück

Jetzt ist Urlaub ja immer etwas, das wie im Flug vergeht und so ist Herr W auf seinem Weg zur Wohngruppe in Gedanken immer noch weit weg. Aber der buntbemalte VW-Bus ist ihm dann doch aufgefallen. So ein richtiger Flower-Power-Bulli, aus der Zeit, als man noch Straßenkarten lesen können musste, wenn man irgendwohin wollte. Herr W konnte den Spruch gar nicht übersehen: Träume nicht dein Leben, lebe deine Träume.

„Genau, so isses!“ Der Pubertäre grinste ihn an, als Herr W ihm später in der Wohngruppe von dem VW-Bulli erzählte. „Was so isses?“ „Ja, träume nicht dein Leben, lebe deine Träume.“  „Ach ja? Du weißt, dass der Spruch völliger Unsinn ist? Pass auf, ich mach mir jetzt erstmal einen Cappuccino und dann träumen wir zwei beide mal am Küchentisch.“ - „Autsch!“  „Upps, da habe ich wohl die Schranktür offengelassen!“ „Halb so schlimm, auf dem Auge bin ich sowieso blind.“ „Na, da haben wir ja Glück gehabt … Gut, wir tun jetzt mal so als ob, dieser Spruch irgendeine Relevanz hätte. Also, da bin ich  jetzt mal gespannt. Von was hast du, einäugiger Pirat, schon so alles geträumt, was du mal so werden wolltest?“ „Du sagst es! Pirat.“

„Pirat?“

„Jap, ich liebe das Meer und den Fluch der Karibik. Johnny Depp, mein Idol. Klar, damals in der Grundschule wollten alle meine Freunde Pirat werden.“

„So, so Pirat. Ich seh' dich vor mir: Die Totenkopfflagge weht stolz im Wind. Die See ist aufgewühlt, leichter Nebel zieht auf. Hein der Einäugige mit cooler Augenklappe und mit fortschreitender Sehschwäche im anderen Auge, muss ja nicht gleich jeder wissen, lässt das Fernrohr über den Horizont gleiten. - Hein?! - Nichts, Captain, alles ruhig! Wir haben die Engländer wohl abgeschüttelt!  - Hein! Halt dein Auge offen! – Jawoll Captain! - Wenige Minuten später erschüttert der Einschlag einer Kanonenkugel das Deck. - Captain, wir sinken! - Und wie lauteten die letzten Worte des Kapitäns, vom einzigen Überlebenden berichtet? – Hein? Wie heißt nochmal der Kerl von der Hilfsmittelberatung? Der soll mich kennenlernen! Und du! Komm du mir da mal runter!“

„Ist ja gut. Kurz darauf habe ich eh die Seiten gewechselt und wollte Polizist werden.“

 

Legofigur mit Polizeiauto

„Polizist?“

„Meine Gerechtigkeitsphase, hat doch fast jeder mal, früher oder später.“

„Durchgefallen. Die Polizei nimmt dich nicht, weil der Sehtest … naja! Aber die städtische Verkehrspolizei. Bei der Bezahlung drückt man schon mal ein Auge zu. Fachkräftemangel. - Guten Morgen! Hier noch eine kurze Meldung die Marburger Innenstadt betreffend. Die Ampelanlage im Bereich der Elisabethkreuzung ist ausgefallen. Der Verkehr wird von einem Mitarbeiter des Ordnungsamtes geregelt. Dadurch kann es zu kleinen Verzögerungen im Berufsverkehr kommen … Guten Abend! Wir haben für alle Autofahrer*innen eine gute Meldung. Das Verkehrschaos an der Kreuzung Elisabethkirche in Marburg löst sich nach 6 Stunden endlich langsam auf. Und was kam danach?“
„Naja, Pilot!“

„Pilot?“

„Klar man, die schnuckeligen Stewardessen. Da hab ich schon von geträumt.“
„Der sehbeeinträchtigte Chauvi-Pilot mit Retina Pigmentosa. Hier spricht die Chefstewardess: Aufgrund von Verzögerungen im Betriebsablauf landen wir mit einer Verspätung von vier Stunden um 22 Uhr Ortszeit. Leider ist unser Pilot nachtblind. Befindet sich unter den Fluggästen vielleicht ein Segelflieger, Flugzeugmodellbauer oder Gleitschirmflieger? Bitte sofort ins Cockpit kommen, um dem Piloten beim Landeanflug zu assistieren. Unsere Flugbegleiterinnen servieren derweil Whisky, Wodka und Birnenbrand direkt am Platz. Geht alles aufs Haus. All you can drink, meine Damen und Herren! Die Brechbeutel, links neben den Sitzen! - Und sonst so? Bei mir hat sich damals der Berufswunsch alle paar Monate geändert und bei dir?“

„Jetzt lach nicht! Ich wollte mal Medizin studieren, um Chirurg zu werden.“

„Chirurg?“

„Ja, Menschen zu helfen ist noch immer mein Traum.“

„Herr Bender, Sie zittern heute ja wie Espenlaub. Haben Sie gestern etwa schon wieder getrunken? Ihre Hand ist ja völlig verschwitzt! So kann ich doch die Operation nicht durchführen! Wenn Sie Ihr Alkoholproblem nicht in den Griff bekommen, muss ich mich nach einer neuen Assistenzkraft zum Führen meiner Hand umschauen!“
„Ich weiß ja, dass das nicht geht. Deshalb habe ich schon bald auf Architektur umgesattelt. Ich kann gut zeichnen. Ich brauche nur einen etwas dickeren Stift. War jedenfalls vor zwei Jahren mal mein Traumberuf.“

„Architekt?“

„Aber halloo!“
„Genial, dieses Hochhaus, so was habe ich noch nie gesehen. Wenn man von hier unten daran nach oben schaut, dann bekommt man das Gefühl als würde es auf einen zukommen … Oh Gott, nimm die Beine in die Hand und lauf so schnell du kannst, nur weg hier…! - So eine Scheiße, dann war das doch eine 5 und keine 6 in der Bauzeichnung!“

„Hast mich schon überzeugt. Aber das Meer, muss ja nicht unbedingt Pirat sein. Kapitän oder Steuermann von so einem hochmodernen Luxusliner, dass muss doch gehen – mit der Technik.“

„Oha, Schiffskapitän?“

„Ja, warum nicht?“
„Was für eine Ehre zu Ihnen auf die Brücke zu dürfen, Herr Kapitän und dann noch während der Jungfernfahrt. Da werde ich meinen Kolleg*innen, wenn ich wieder zuhause bin, wohl so einiges zu erzählen haben. Darf ich mal fragen, das Weiße da vorne, ist das ein echter Eisberg?“ „Upps, den hab´ ich  gar nicht kommen sehen. Aber keine Panik, Udo!“
„Ist ja gut! Fällt dir sonst noch was ein? Bei dir hat ja jeder Traum einen Defekt!“

„Oh ja, Frisör!“

„Nee, oder?“
„Jetzt heul´ nicht rum! Mit der Frisur hast du in deiner Klasse ein Alleinstellungsmerkmal! Aber sag' mal, dreh dich mal zur Seite, fehlt da nicht ein Stück vom Ohr?“
„Komm Herr W, einer geht noch!“

„Wie wär´s mit Elektriker?“

„Naja…“
„Meister? - Ja, so ist recht! Immer Fragen, wenn du was nicht verstanden hast, das erwarte ich von meinen Lehrlingen. Es ist ganz einfach: den blauen mit dem blauen Draht und den roten mit dem roten. Verstanden? - Mein Gott, was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja aus! – Die Arbeit. Hat einen ganz schönen Wumms gegeben. Ich seh' ja keine Farben, konnte ich meinem Meister aber doch nicht gleich in der ersten Woche auf die Nase binden.“
„Noch was?“

„Formel 1 Pilot“

„Haha…“
„Navi: In 400 Meter leichte rechts Kurve. Bitte links einordnen. Dann zwei Kilometer geradeaus über die Ziellinie … Sie haben ihr Ziel erreicht. - Und wieder ein Start-Ziel-Sieg von Martin Schulz. Seit nunmehr fünf Rennen startet er von der Pole-Position. Seit seinem spektakulären Crash im ersten Rennen fährt er dem Feld auf und davon. Wieder ein nie gefährdeter Sieg. - Der Martin fährt wie der Teufel. Ich traue mich gar nicht ihn zu überholen, bin doch nicht lebensmüde. - Geht mir genauso. Keine Ahnung was mit dem los ist. Soll er doch gewinnen, das Risiko ist es mir nicht wert. - Schatz, gratuliere zum fünften Sieg in Folge! – Japp, läuft! Ich hätte das Klicksonar-Seminar schon viel früher besuchen sollen. Fenster runter und Gas gegeben …  – So, Schluss mit der Träumerei.  – Hey, wo willst du denn so schnell hin? Bleib mal noch kurz hier! Kannst du eigentlich schwimmen?“
„Klar! Ich bin im Wasser zuhause.“
„Hast du schon mal überlegt, einen auf Bademeister zu machen? Jetzt nicht im Schwimmbad, sondern am Meer, im Süden, Mallorca zum Beispiel?“

„Jetzt ist aber auch mal gut! Wir sind mit dem Thema durch! Nur noch ernstgemeinte Vorschläge, bitte!“