Zeitenwende

Der junge Mann steht lachend an einem Straßenschild "chile via Panam 400 km"

Sanny Roman Zillober, Abitur 2011

Meine Schullaufbahn begann an einer Förderschule mit Schwerpunkt Sehen in München. Dort machte ich 2008 auch meine Mittlere Reife. Da ich gegen Ende der Realschulzeit noch kein konkretes Berufsziel vor Augen hatte, kam bei mir der Gedanke auf, eine weiterführende Schule zu besuchen. Von Inklusion war damals noch keine Rede und so holte ich mir bei einem ehemaligen Mitschüler, der ein Jahr zuvor an die blista in Marburg gewechselt war, Informationen über diese Einrichtung. Dort wurde in der Schule bereits mit Laptop gearbeitet - das fand ich ziemlich cool. Aus heutiger Sicht war der Schritt hin zum digitalen Arbeiten in der Oberstufe ein notwendiger Schritt für mich, denn kaum ein Berufsfeld kommt in diesen Tagen ohne Computer aus. Gerade mit meiner Seheinschränkung – auf dem rechten Auge habe ich noch einen Visus von 30 % und auf dem linken Auge 5 % - war es umso wichtiger, einen sicheren Umgang mit den digitalen Helfern zu erlernen.

Abi und dann?

2011 machte ich mein Abitur. Die Berufsfrage war für mich aber noch nicht endgültig geklärt, also nutzte ich die Gelegenheit und reiste mit meinem Vater und meiner Schwester für ein halbes Jahr in mein „Vater“-Land Chile und besuchte dort auch meine Großeltern und meine Verwandten. Ich machte in diesen Monaten unglaublich viele Erfahrungen, die mich in meiner persönlichen Entwicklung weiter voranbringen sollten. Es war interessant und spannend, die kulturellen Unterschiede zu erleben, aber auch den Lebensstandard in Deutschland ganz neu wertzuschätzen. Und nach der Reise war auch das „Wie soll es danach weiter gehen?“ beantwortet. Zwischen „Irgendwas mit Medien“ und „Irgendwas mit Menschen“ wurde es dann der pädagogische Studiengang „Erziehungs- und Bildungswissenschaften“ an der Universität in Marburg. Marburg auch deshalb, da ich dort bereits einen Freundeskreis hatte und ich nicht in einer neuen Stadt bei Null beginnen wollte.

Dieser Studiengang an einer Universität ist zwar im Gegensatz zum Studium der Sozialen Arbeit an einer Fachhochschule wissenschaftlicher orientiert, ermöglicht aber auch mit der Schwerpunktwahl der Sozial- und Rehabilitationspädagogik praktische Tätigkeiten, wie zum Beispiel im Jugendamt, so wurde es jedenfalls von Universitätsseite anfangs kommuniziert. Erst im Laufe meines Studiums wurde mir klar, dass der Bachelor- und auch der Masterabschluss in Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Marburg, eher ein wissenschaftlich-theoretischer Abschluss ist, der zu einer universitären Laufbahn befähigen soll. Die staatliche Anerkennung als „Sozialpädagoge“ oder „Sozialarbeiter“ erwirbt man durch diesen Abschluss aber nicht.

Dementsprechend schwierig kann sich – wie bei mir der Fall – im Anschluss an das Studium die Jobsuche gestalten.   

Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften mit einer Seheinschränkung

Aber zurück zum Studium. Mit dem Beginn meines Studiums musste ich mich immer öfter aktiv mit meiner Sehbehinderung auseinandersetzen. Nicht, dass sie zuvor keine große Rolle gespielt hätte. Im Alltag, bei den Pfadfindern und im Jugendturnen gab es durchaus Situationen, in denen ich mich mit meiner Seheinschränkung konfrontiert sah, jedoch nie so sehr, wie während meines Studiums und in der Zeit danach.

Für ein gelingendes Studium mit einer Seheinschränkung ist neben der Akzeptanz der eigenen Behinderung der offene Umgang damit besonders wichtig. Bei mir ist die Seheinschränkung für Kommilitonen und Lehrende, oft „unsichtbar“ und es besteht für mich die Möglichkeit, diese in vielen Situationen zu verbergen. Deshalb brauchte ich auch etwas Zeit, bis ich zum Beispiel mein Monokular wie selbstverständlich nutzte.

Eine Herausforderung im Studium bestand für mich darin, jedes Mal aufs Neue darum zu bitten, die Präsentationen und andere Arbeitsmaterialien in digitaler Form zu erhalten. Mittlerweile ist dies ein eher selteneres Problem, da dank Onlineplattformen Materialien überwiegend digital zur Verfügung stehen. Des Weiteren hieß es für mich, dass ich mich zum Experten meiner Rechte machen musste. Zum Beispiel informierte ich mich vor Klausuren darüber, was mir an Nachteilsausgleich und Hilfsmitteln zusteht, um diese dann einfordern zu können. Aber wie immer kommt es bei auftretenden Problemen auch auf die Kooperationsbereitschaft des Gegenübers an, denn der Faktor Mensch bleibt unberechenbar. So gab es Dozent*innen, die sich strikt weigerten, ihre Präsentationen herauszugeben. Oder bei einem Gespräch zu einer Klausur bekam ich zur Antwort: „Na toll, dann muss ich wegen Ihnen extra eine Aufsicht organisieren.“ Wie es der Zufall so wollte, kam es gerade bei eben dieser Klausur zu massiven Problemen bei der Darstellung des Textes auf dem Bildschirm. Bei der Vergrößerung verschwanden Textteile der Klausur einfach, was für mich eine faire Bearbeitung unmöglich machte und mich massiv frustrierte, weil mir vorher versichert wurde, dass man die Technik im Griff hätte. Solche Fehler aus Unwissenheit können passieren, das Entscheidende ist, wie offen und lösungsorientiert die Verantwortlichen danach damit umgehen. Im o. g. Fall brauchte es einen von mir eingeforderten ‚Runden Tisch‘ mit dem Dekan des Fachbereichs und der Schwerbehindertenvertretung, um das Problem zu lösen. Zum Glück stand mir meine Lebenspartnerin bei diesen Konflikten immer zur Seite, denn ganz unabhängig davon, ob man mit seiner Behinderung einen offenen Umgang pflegt oder nicht, kostet all das natürlich Nerven, Zeit und einiges an Mut, sich mit Lehrenden und Führungskräften auseinanderzusetzen. Aber es lohnt sich, für seine Rechte einzustehen und sich gegen Bevormundung stark zu machen.

Studium und dann?

Meine Begeisterung für die Arbeit mit audiovisuellen Medien hatte mich auch während des Studiums nie losgelassen und so bewarb ich mich, kurz nach meinem Bachelorabschluss 2015, auf eine Ausbildungsstelle als Mediengestalter Bild und Ton. Um zu erfahren, ob ich in dem Tätigkeitsfeld mit meiner Seheinschränkung arbeiten kann, absolvierte ich zunächst zwei erfolgreiche und vielversprechende Praktika beim ZDF und beim Bayrischen Rundfunk, dir mir zeigten, dass eine Tätigkeit in diesem Bereich auch mit einer Sehbehinderung möglich ist.

Bei den darauffolgenden Bewerbungen um eine Ausbildungsstelle musste ich leider feststellen, dass ein offener Umgang mit der eigenen Behinderung nicht immer auf positive Resonanz stößt. Während ich von einer bayrischen Rundfunkanstalt eine förmliche Absage bekam, wurde ich von einer hessischen Sendeanstalt aufgrund meiner Sehbehinderung als Bewerber abgelehnt. Trotz des erfolgreich absolvierten Einstellungstests hieß es, dass man sich nicht vorstellen könne, mich mit einer Sehschädigung in diesem Tätigkeitsfeld auszubilden. Nach einem Hinweis meinerseits auf das Schwerbehindertenrecht lud man mich dann doch noch zu einem Vorstellungsgespräch ein, aber ich traf weiterhin auf Vorbehalte und Abwehr und man gab mir den Ratschlag, ich solle doch am besten versuchen, in einem papierlosen Büro zu arbeiten. Einzig die Schwerbehindertenvertretung beteiligte sich lösungsorientiert an dem Gespräch. Diese Ohrfeige musste ich erstmal verarbeiten. Danach verfolgte ich diesen Weg nicht mehr weiter. Aber versucht hatte ich es wenigstens. Also dann doch zurück zur Pädagogik. Da ich endlich in die Praxis wollte, hieß es wieder: bewerben, bewerben.

Auch dabei machte ich so meine ganz eigenen Erfahrungen, die in einem regen Kontakt mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes enden sollten. Kurz vor dem Probearbeitstermin bei einer Einrichtung eines Wohlfahrtsverbandes bekam ich kurzfristig eine telefonische Absage mit der Begründung, dass ich nun doch einen Führerschein bräuchte, den ich ja nicht habe, obwohl vorher davon keine Rede war. Man wollte mich als Sehbehinderten ja nur schützen, so hieß es später, da ich es bei dieser Stelle auch mit schwierigeren Jugendlichen zu tun gehabt hätte. Wie schön, dass oft fremde Menschen wissen, was man als Mensch mit Seheinschränkung leisten kann und was nicht.

Nach etwas Recherche wandte ich mich deshalb an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Dort wurde ich sehr emphatisch und kompetent unterstützt. Es wurde eine Stellungnahme meines potentiellen Arbeitgebers eingefordert. Mir wurde ein klärendes Gespräch angeboten und man bedauerte, dass ich das Telefongespräch als Diskriminierung aufgefasst habe. Aber in dem Gespräch mit Personalerin und der Schwerbehindertenvertretung hatte sich an der negativen Einstellung und Skepsis gegenüber einem Bewerber mit Sehbehinderung nichts geändert. Von einer Schadensersatzklage wegen Diskriminierung riet man mir ab, da das Gespräch nur am Telefon stattgefunden hatte.

Bei den weiteren Bewerbungen änderte ich meine Taktik und gab meine Seheinschränkung nicht mehr an. Erst im Vorstellungsgespräch nutzte ich die Gelegenheit, diese anzusprechen und die Verantwortlichen persönlich von mir zu überzeugen. Am Ende fand ich doch noch den Berufseinstieg, wenn auch mit Problemen aufgrund der fehlenden staatlichen Anerkennung meines Bachelorabschlusses aus Hessen. Zunächst arbeitete ich in der Nachmittagsbetreuung einer offenen Ganztagsschule, später in einer heilpädagogischen Tagesstätte, befristet auf ein Jahr.

Seit 2017 arbeite ich nun im Internat meiner alten Förderschule in München als Betreuer. Da ich durch meine eigene Betroffenheit zu einigen Schüler*innen sicher einen besonderen Zugang habe und es mir ein großes Anliegen ist, speziell Abschlussschüler*innen möglichst gut auf das weitere Leben mit Behinderung vorzubereiten, erfüllt mich diese Arbeit sehr. Daneben studiere ich im Moment in Halle, um einen Bachelor in Erziehungswissenschaften mit staatlicher Anerkennung zu erlangen. Das funktioniert ganz gut, da ich nicht das ganze Studium wiederholen, sondern nur ganz bestimmte Module belegen muss.

Die blista-Zeit

Der Junge Mann sitzt lachend auf dem Platz vor der Alten Universität in Marburg, er hält einen Hund an der Leine.

Abschließend möchte ich noch auf meine blista-Zeit eingehen. Da ich in der Münchner Förderschule nicht im Internat wohnte, sondern Fahrschüler war und meine Freunde ebenfalls aus den unterschiedlichsten Herkunftsorten kamen, war ich dort nie gut vernetzt. Dies konnte ich an der blista nachholen und eine „normale“ Sozialisation erleben: etwas mit Freunden nach der Schule unternehmen, feiern gehen, Beziehungen führen etc. Trotz der gezielten Förderung an der blista stand immer der junge Mensch im Vordergrund und nicht die Behinderung. Die blista ist ein Schonraum, man wird etwas in Watte gepackt, aber wie ich finde, gut so! Dadurch hatte ich eine unbeschwerte Schulzeit und Sozialisation, musste bei der Bildung keine Abstriche machen und ersparte mir frühzeitige negative und diskriminierende Erfahrungen.

Wenn Schüler*innen wegen zu großer Probleme von allgemeinen Schulen an die Förderschule wechseln müssen, sehe ich, dass Inklusion gerade bei einer Sehschädigung auch ihre Grenzen hat. Ich werde weiterhin mit großer Freude die SchülerInnen meiner Internatsgruppe fördern, um sie fit für ihren weiteren Schul- und Lebensweg zu machen. Und vielleicht führt dieser ja auch nach Marburg an die blista.