Buchtipp

Behindertes Leben in der inklusiven Gesellschaft – Dino Capovilla

Capovilla geht der Frage nach, wie ein gutes, gelungenes und selbstbestimmtes Leben mit Behinderung in unserer Gesellschaft aussehen könnte. Dazu beschäftigt er sich in seiner Studie mit den Lebensbedingungen behinderter Menschen im Kontext der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussion rund um die Themen Inklusion und Teilhabe. Zunächst betrachtet er Behinderung im historischen und kulturellen Kontext und untersucht, ob es sich bei Behinderung um eine konkrete Tatsache oder um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt. Mit dem Ziel einer kritischen Analyse der Erwerbsarbeit als angeblicher Königsweg für behinderte Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe. Capovilla arbeitet heraus, „dass sich (…) eine interkulturelle, negative Bewertung von Behinderung historisch und empirisch nachzeichnen lässt und dadurch eine Wirklichkeit geschaffen wird, in der behinderte Menschen mit den Folgen dieser negativen Bewertung leben müssen.“ Und dass „Behinderung (…) als niedriges, diskreditierbares Statusmerkmal wahrgenommen (wird), welchem alle anderen Statusmerkmale des Individuums nachgeordnet werden.“ Die Auswirkungen dieser Zuschreibung auf den Versuch der Teilhabe durch Erwerbsarbeit beschreibt er dann wie folgt: „Behinderte Menschen zeichnen sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung vor allem durch ihre angebliche Inkompetenz als Folge ihrer Schädigung aus (…)

Buchcover von "Behindertes Leben in der inklusiven Gesellschaft" im nüchternen Beltz-Juventa-Design

Die praktische Konsequenz besteht darin, dass behinderte Menschen häufig unter erhöhtem und verschärften Nachweisdruck ihrer Kompetenzen stehen (…)“ Und weiter mit leicht ironischem Unterton: „(Es) muss der behinderten Person dann der Spagat gelingen, in den Augen der Arbeitgebenden möglichst keine zugeschriebene Kompetenz einzubüßen, während es die Fachkräfte vom Interventionssystem von der eigenen Inkompetenz zu überzeugen gilt, damit ausreichend Unterstützungsleistungen zur Verfügung gestellt werden.“

Ein weiterer Aspekt, den Capovilla in seiner Arbeit behandelt, ist der teils mehr als unrühmliche Umgang der institutionellen Pädagogik mit behinderten Menschen bis in die Gegenwart hinein. Sein augenzwinkerndes Fazit zu den interventionistischen Bemühungen der pädagogischen Profis am behinderten Subjekt: „Auf der anderen Seite halten auch behinderte genauso wie auch unbehinderte Menschen, rein schon evolutionär bedingt, eine ganze Menge kolossal verfehlter, gut gemeinter Handlungen aus, da ansonsten der Fortbestand der Menschheit infrage stehen würde.“ 

Ein wissenschaftliches Buch, das zwar keine ganz einfache Lektüre ist, aber auf jeden Fall zum Nachdenken anregt.