„Türen öffnen“
Jürgen Nagel – Ein Porträt
Thorsten Büchner | Plötzlich ging es ganz schnell. Nachdem Jürgen Nagel Anfang 1981, nach erfolgreich absolviertem Studium der Sozialarbeit, „schwer auf der Suche war, endlich Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen”, machte ihn das Marburger Arbeitsamt auf ein Stellenangebot der blista aufmerksam. Bei diesem Job ging es darum, dass er mit einem umgebauten Reisebus quer durch Deutschland fahren sollte und mit den dortigen Selbsthilfeverbänden des Blindenwesens zumeist an Marktplätzen zum Thema Blindheit/Sehbehinderung und Hilfsmitteleinsatz informieren sollte. „Ich hatte natürlich keine Ahnung von diesem Bereich, habe mir aber zugetraut, mich schnell einzuarbeiten.” Für ihn war es „faszinierend zu sehen, welche Lösungen es für Probleme und Herausforderungen” gab. Nagel erinnert sich etwa an ein kleines, mechanisches Gerät, das es Menschen mit Taubblindheit ermöglicht, durch Brailleeingabe zu kommunizieren. „Ich erinnere mich auch an die erste Braillezeile, das Braillex oder das Optacon, mit dem man Schwarzschrift fühlen konnte. Das fand ich enorm beeindruckend, weil diese Hilfsmittel Türen öffnen.”
Nach sechs Monaten im „Infobus”, bei dem Jürgen Nagel viel über die zentrale Bedeutung von Selbsthilfe gelernt hat, wechselte er innerhalb der blista in den Reha-Bereich und unterrichtete die blista-Schülerinnen und Schüler im Gebrauch von Hilfsmitteln. „Damals gab es viele Kolleginnen und Kollegen die ihre Kenntnisse in „Orientierung & Mobilität“ (O&M) sowie in „Lebenspraktischen Fähigkeiten“ (LPF) im Ausland (USA / UK) erworben hatten. Wir hatten auch Kollegen direkt aus den USA, oder den Niederlanden,” beschreibt er die damalige Situation im RES.
So entstand Anfang der 1980er Jahre an der blista eine Vollzeitausbildung zum Rehalehrer, an der Jürgen Nagel von 1983 bis 1985 als einziger blista-Mitarbeiter teilnahm. In eineinhalb Jahren lernte er, was er danach Jahre lang an blinde und sehbehinderte Schüler weitergeben sollte. Wie orientiere ich mich und wie setze ich den Langstock ein? Wie organisiere ich mir meinen Alltag so, dass ich selbstbestimmt zurechtkomme?
„Während der Ausbildung habe ich im praktischen Unterricht und im Austausch mit meinen Kollegen gemerkt, dass es vor allen Dingen darum geht, nach individuellen Lösungen zu suchen, so dass es für jeden passgenau wird. Keinen strikten Fahrplan im Kopf zu haben, sondern darum, dass man sich selbst Fragen stellt: Weshalb hat es jetzt nicht geklappt, diese Kreuzung zu überqueren? Wo war der Punkt an dem ich die Orientierung verloren habe? Wo habe ich mich noch sicher gefühlt?”
Diese Ansätze hat Nagel dann auch im Unterricht mit seinen Schülerinnen und Schülern, ob in O&M oder im LPF-Bereich verfolgt. 1991 übernahm Jürgen Nagel dann die Leitung der Rehalehrer-Ausbildung an der blista. Entwickelte zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen neue Lerninhalte und Ziele. „Vor allen Dingen der Bereich Sehbehinderung rückte immer stärker in den Mittelpunkt.” Später, als Nagel schon Leiter der Rehabilitationseinrichtung (RES) war, gelang es, für die Rehalehrer-Ausbildung die staatliche Anerkennung zu erreichen. „Ein Quantensprung!”, freut sich Nagel noch heute.
Der Austausch mit anderen Einrichtungen, ob national im „Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik” (VBS) oder auf internationaler Ebene wie bei der „International Mobility Conference 2009” (IMC) in Marburg ist Nagel besonders wichtig. „Davon haben wir in unserer täglichen Arbeit hier vor Ort profitiert. Und wir konnten einige Entwicklungen gemeinsam anstoßen. So zum Beispiel die berufsbegleitende Weiterbildung in der Frühförderung, die Nagel mit Werner Hecker zusammen blista-seitig vorangetrieben hat.
Seit dem Jahr 2001 fungierte Jürgen Nagel dann in der Nachfolge von Franz-Josef Esch als Leiter der RES. Zusammen mit seinem Team forcierte er in den folgenden Jahren die stetige Angebotserweiterung.
Auch dabei verfolgte Nagel seinen Grundsatz „zu schauen, was dem Einzelnen nützt, was der einzelne Mensch für Bedarfe hat”. So erinnert er sich beispielsweise daran, „dass wir die Möglichkeit zu Umschulungen in unserer IT-Ausbildung aufgrund eines BTG-Klienten angegangen haben.” Dazu nutzte es der blista sehr, als eine der ersten Institutionen den Status „einer vergleichbaren Einrichtung” nach SGB IX erlangt zu haben. „Das war ein extrem wichtiger Schritt und hat uns die Arbeit im Bereich der beruflichen Rehabilitation enorm erleichtert, weil wir so für die Kostenträger wie Arbeitsagenturen und Jobcenter gegenüber den Berufsbildungswerken gleichgestellt sind”, verdeutlicht er den Stellenwert. Dass sich die blista in den letzten Jahren verstärkt im Bereich „Qualifizierung und Coaching” von Arbeitssuchenden mit Blindheit und Sehbehinderung engagiert, führt Jürgen Nagel vor allen Dingen auf die intensive Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe zurück. „Es waren unsere eigenen Mitarbeiter mit Blindheit und Sehbehinderung, die uns immer wieder gesagt haben, dass wir in diesem Sektor unsere Kompetenzen stärker einbringen müssen”, so Nagel.
Die Beratungs- und Schulungsangebote wurden in den letzten Jahren gebündelt und unter einem Dach konzentriert, so dass Ratsuchende aus der Region im Bereich „LowVision”, EDV- und Hilfsmittelberatung sowie allgemeiner Beratung rund ums Thema Blindheit/Sehbehinderung zielgerichteter unterstützt werden können. Ein völlig neues Betätigungsfeld entstand mit der Seniorenberatung, mit der sich Jürgen Nagel in den letzten Jahren besonders intensiv beschäftigte. „Wir haben da einfach gemerkt, dass da kaum bis nichts unternommen und getan wird. Im Unterschied zu Ländern im benachbarten Ausland. Oftmals erlebten die Seniorinnen und Senioren es so, dass der blista-Seniorenberater oder der Low-Vision-Experte erste Ansprechpartner seien, die ihnen zuhören und ihre neu aufgetretene Sehbeeinträchtigung überhaupt erklären konnten.
Die Seniorenarbeit lag Nagel besonders am Herzen. Auch als er 2016 zum stellvertretenden blista-Direktor gewählt wurde, blieb er diesem Bereich eng verbunden. „Natürlich verändert sich als stellvertretender Direktor der Blickwinkel. Man lernt dann alles nochmal aus einer neuen Perspektive kennen.”
Eines seiner letzten Projekte in 38 Jahren blista war die Gründung von „blista Frankfurt”, dem Reha-Beratungs- und Schulungszentrum, das die blista im vergangenen Oktober offiziell eröffnete. „Dabei war es uns extrem wichtig, dass wir so eng wie möglich mit der Selbsthilfe kooperieren.”
Die blista nutzt in unmittelbarer Nachbarschaft nicht nur die gleichen Räumlichkeiten wie der „Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen e.V” (BSBH), sondern arbeitet auch mit dem hessischen Landesverband des „Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands” (DBSV) in allen Bereichen eng zusammen. „Gewissermaßen schließt sich da ein Kreis”, sagt Nagel, der zu Beginn seiner blista-Zeit mit dem „Infobus”, der ein Gemeinschaftsprojekt von blista und dem heutigen DBSV war, über die Lande fuhr.
„Für mich war es immer zentral, dass wir nicht stehenbleiben, unsere Angebote stets weiterentwickeln. So dass sie auf die individuellen Anforderungen jedes einzelnen zugeschnitten sind. Da war ich sicher manchmal etwas ungeduldig, weil es mir nicht schnell genug ging. Zusammen, im Team, haben wir das aber in den allermeisten Fällen zum Nutzen unserer Zielgruppe gestalten können.”
Für die Zukunft wünscht sich Nagel deswegen auch „dass die blista vielleicht noch konsequenter den Schritt hin zu angepassten Maßnahmen geht, die auch auf die zeitlichen und räumlichen Bedürfnisse der Teilnehmenden Rücksicht nimmt.” Außerdem hofft er, dass das derzeitige Engagement der Arbeitsagenturen und Jobcenter für Arbeitssuchende mit Blindheit und Sehbehinderung auch dann anhält, wenn die konjunkturelle Lage die Arbeitslosenzahlen auch bei Nichtbehinderten wieder in die Höhe schnellen lässt und „der Arbeitsmarkt nicht zwingend auf Arbeitnehmer mit Behinderungen angewiesen” ist.
Seit 1. Juni ist Jürgen Nagel in der passiven Phase der Sabbatzeit. „Ich arbeite aber noch an ein, zwei Projekten mit, die ich gerne weiter begleiten möchte”, sagt der gebürtige „Niederrheiner mit Herz und Seele”. Pläne für die Phase danach, mit dem „Gefühl, dass der Urlaub niemals endet”, hat der bekennende Fan des 1. FC Köln und von Real Madrid noch nicht. „Mein Plan ist es, mir keine Pläne mehr zu machen.”
Jürgen Nagel hat in knapp 40 Jahren Berufstätigkeit an der blista dazu beigetragen, dass für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung „Türen geöffnet” wurden. Er hat sich zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen auf blista-Ebene, national und international und mit starker Vernetzung in der Selbsthilfe, dafür eingesetzt „Wege zu finden”. Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Für dieses jahrzehntelange Engagement, verbunden mit einem wertschätzenden, konstruktiven Austausch auf Augenhöhe, wurde Jürgen Nagel im Rahmen seiner feierlichen Verabschiedung in den Ruhestand die „DBSV-Ehrenmedaille” verliehen. Diese Auszeichnung wird sehenden Menschen zuerkannt, die sich in außergewöhnlichem Maße für die Belange von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung engagiert haben.
Am 1. Juni 2019 feierte Jürgen Nagel seinen offiziellen Abschied von der blista mit einem Festakt in der Aula. Bei dieser Gelegenheit bekam er von DBSV-Vizepräsident Hans-Werner Lange die Ehrenmedaille des DBSV überreicht.
Fotos: blista-Öffentlichkeitsarbeit