Zeitenwende - vom Leben nach der blista
von Sophia Elbert, Abitur 2013
Mein Weg nach Marburg
Bis zur 10. Klasse besuchte ich eine Regelschule in meinem Heimatort. In diese Zeit fiel in Niedersachsen die Einführung von G8 - bei mir zur Klasse 6. Der zu lernende Stoff verdichtete sich, anfangs fehlten sogar die passenden Schulbücher und natürlich gab es auch keine digitale Version der Bücher, die ich als geburtsblinde Schülerin, die mit Braillezeile und Jaws arbeitet, benötigt hätte. Nach drei Jahren wechselte ich folglich vom Gymnasium auf die Realschule und machte dort meinen Abschluss. Um mein Abitur doch noch zu bekommen, entschied ich mich anschließend für einen Wechsel an die blista, auch wenn es mir nicht leicht fiel, Freunde und Familie über 300 Kilometer entfernt zu wissen. Ich hatte keine Lust mehr, insbesondere den Schulstoff aus naturwissenschaftlichen Fächern regelmäßig zuhause nachzuarbeiten – weil die für mich mögliche Wissensvermittlung sehr vom Engagement der einzelnen Lehrkräfte abhing.
Abitur und dann?
Bereits Monate vor meinem Abitur begann ich mich mit meiner beruflichen Zukunft auseinanderzusetzen. Auf den Internetseiten der Universitäten informierte ich mich über die unterschiedlichsten Studiengänge, befragte Bekannte über ihre Erfahrungen und versuchte mir darüber klar zu werden, welche Tätigkeiten mich interessierten bzw. überhaupt für mich in Frage kommen könnten. Eigentlich ein ganz normaler Prozess, dieses Informationen einholen und abwägen, den alle jungen Menschen durchlaufen. Doch wenn man nicht sehen kann, muss man weit mehr Dinge in seine Überlegungen mit einbeziehen als allgemein üblich. Schließlich bewarb ich mich an verschiedenen Universitäten auf Studiengänge aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften und Sonderpädagogik. Da ich aber dann doch nicht alles Vertraute verlassen wollte, entschied ich mich schlussendlich für ein Bachelorstudium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg. Denn in Marburg kannte ich mich aus, hatte mein soziales Umfeld und würde mich so von Anfang an voll auf mein Studium konzentrieren können. Außerdem hieß es, dass die Uni halbwegs barrierefrei sei, dass Arbeitsmaterialien gut zugänglich und die Lehrenden im Umgang mit Studierenden mit einer Seheinschränkung relativ vertraut wären.
Beginn des Studiums
Nach einer längeren Wohnungssuche startete dann im Oktober 2013 mein Bachelorstudiengang der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Insbesondere zu Beginn des Studiums stellten sich mir viele Fragen und es gab viel zu organisieren: Welche Veranstaltung besuche ich an welchem Ort? Schaffe ich zeitlich die Raumwechsel? Wie funktioniert die Bibliothek? Fragen, die zwar alle Studierenden haben, aber mit einer Seheinschränkung gestaltet sich jede Antwort immer etwas komplexer.
Bei mir kam dann auch noch hinzu: Wie finde ich am nächsten Tag unter den 200 Studienanfänger*innen diejenigen wieder, mit denen ich mich gestern nett unterhalten hatte? Wie arbeite ich meine Assistenz ein? - Diese hatte ich erst eine Woche vor Studienbeginn gefunden. Wie kommuniziere ich am besten mit den Dozierenden? Zu Beginn jedes Semesters teilte ich jedem Dozierenden mit, dass ich blind bin und dass ich das Lehrmaterial in digitaler Form benötige. Mit dem Ergebnis, dass einige Seminare und Vorlesungen recht problemlos liefen, da Lehrende ihre Materialien vorab digital zur Verfügung stellten. Andere waren wiederum noch nicht so digital unterwegs oder vergaßen regelmäßig das Hochladen ihrer Unterlagen vor ihrer Veranstaltung, sodass ich sie jedes Mal erneut erinnern musste. Hierbei unterstützten mich aber andere Studierende, die ebenfalls auf diese Problematik hinwiesen, weil sie auch am PC arbeiteten oder sich die Arbeitsfolien vorab ausdrucken wollten. Insbesondere das ständige Nachfragen fiel mir zu Beginn nicht eben leicht. Jedoch konnte ich hier auf Erfahrungen aus meiner Zeit an der Regelschule zurückgreifen: dort hatte ich gelernt, auf meine Bedürfnisse immer wieder aufmerksam zu machen und am besten gleich Lösungsvorschläge zu präsentieren, die dann meistens auch dankend angenommen wurden. Trotz allem: die Organisation, die Beschaffung und Umarbeitung von Lehrmaterialien, erforderte neben dem eigentlichen Lernen und Studieren viel zusätzliche Zeit und Energie. Um Zeit und Ressourcen zu schonen, habe ich mit einer anderen blinden Studentin Materialien ausgetauscht bzw. die Umarbeitung koordiniert. Es ist auf jeden Fall lohnenswert, sich mit anderen zusammenzutun, Informationen auszutauschen oder vor Prüfungen zusammen mit anderen betroffenen Studierenden das Gespräch mit den Dozierenden zu suchen, um praktische Lösungen für einen barrierefreien Prüfungsablauf zu erörtern - idealerweise sollte man die Lösung gleich mitbringen.
Theorie und Praxis
Im Laufe des Studiums stand auch ein Praktikum an. Ich hatte den Studienschwerpunkt "Psychosoziale Beratung" gewählt. Leider war es mir aufgrund mangelnder praktischer Erfahrung, der fehlenden Barrierefreiheit der Dokumentierungssoftware, die mir an einer potenziellen Praktikumsstelle mit meinen Hilfsmitteln kein Zugriff auf Akten und andere Aufzeichnungen erlaubte und der großen Konkurrenz an Praktikumsplatzsuchenden in Marburg nicht möglich, einen Platz in dem von mir gewünschten Beratungsbereich zu finden. Stattdessen absolvierte ich dann ein Praktikum in einer Familienbildungsstätte in meinem Heimatort.
Da das Studium eine recht allgemeine Qualifikationsphase ist und mir einfach zu sehr die Praxis fehlte, versuchte ich, wie viele andere Studierende auch, einen Nebenjob im pädagogischen Bereich zu finden. Dies gestaltete sich jedoch sehr schwierig, da viele Tätigkeiten im Kinder- und Jugendbereich mit Aufsichtspflichten oder aber mit Mobilität zu tun hatten. Irgendwann verlagerte ich dann meine Suche in den ehrenamtlichen Bereich und wurde hier sehr schnell fündig. So konnte ich, neben dem doch sehr theoretischen Studium, sowohl im Bildungsbereich als auch in der psychosozialen Beratung praktische Erfahrungen sammeln.
Forschungsorientiertes Masterstudium?
Am Ende meines Bachelorstudiums fand ich mich an einem Punkt wieder, der in den Grundzügen dem des Abiturs ähnelte. Ich musste mich wieder entscheiden, wie es weitergehen soll. Eigentlich wollte ich in die Praxis, bemerkte jedoch schnell, dass Berufe, die mich interessierten, mit einem Bachelor ohne Berufserfahrung eher schwer bis gar nicht zu erreichen sind. Also bewarb ich mich für ein Masterstudium in Marburg. Anders als im Bachelor, war ich von Beginn an besser vernetzt und stellte schnell fest, dass ein forschungsorientierter Master viel Spaß machen konnte. Die Seminare waren kleiner und es wurde praktischer gearbeitet. Meine Forschungsbegeisterung wuchs im Master, sodass ich auch eine empirische Masterarbeit schrieb in der ich Daten erhob, um diese anhand von Theorien auszuwerten. Darüber hinaus ermöglichte mir der Master eine Vertiefung in meinem Interessensbereich der psychosozialen Beratung. Im Jahr meines Masterabschlusses begann ich zusätzlich eine Weiterbildung im Bereich der systemischen Beratung, die dafür nötige Assistenzkraft konnte ich bei meinem Kostenträger beantragen.
Parallel zum Masterstudiengang absolvierte ich ein Zertifikatsstudium der Gender Studies und feministischen Wissenschaft, welches übergreifend von mehreren Fachbereichen der Uni angeboten wurde. Ich fand es spannend, auch Seminare in der Politikwissenschaft oder der Medienwissenschaft zu besuchen. Der feministische Themenbereich hatte mich bereits im Bachelor interessiert. Zudem gelang es mir diesmal auch recht unkompliziert ein Praktikum zu finden, welches mein Interesse an Genderthemen mit dem Interesse am Beratungsbereich verband, denn inzwischen hatte ich ausreichend praktische Erfahrungen sammeln können und konnte sehr klar benennen, wo meine Grenzen liegen, also was ich wie mache und vor allem was ich brauche, um gut zu arbeiten - eine Frage, die immer wieder gestellt wird, auf die man sich sehr gut vorbereiten sollte.
Master erfolgreich - und dann?
Der Wunsch, aus Marburg wegzuziehen, war mit der Zeit immer größer geworden, auch weil viele Menschen aus meinem Umfeld ebenfalls Marburg verließen. Und dann war da noch die Corona-Pandemie. Ich entschied mich, wieder in meine Heimat zurückzuziehen und intensivierte dort meine Jobsuche. Der Erfolg sollte aber noch einige Monate auf sich warten lassen.
Eine Zeit des ständigen Bewerbens mit vielen Vorstellungsgesprächen begann. Schließlich meldete ich mich offiziell arbeitssuchend. Bei der Jobsuche ist jedoch hauptsächlich Eigeninitiative gefragt. Somit bewarb ich mich immer weiter und erlebte zwischenzeitlich gute, schlechte und lustige Vorstellungsgespräche. Die Annahme, dass ich keine Treppen laufen könne, ist nur ein Beispiel aus dieser Zeit. Hier noch ein kleiner Hinweis: Trotz intensiver Vertiefung im Studium bietet ein Master in Erziehungs- und Bildungswissenschaft per se keine Anerkennung im Bereich der Sozialen Arbeit - das hat Vor- und Nachteile. Auf jeden Fall sollte man sich vor Antritt des Studiums genauestens über die Anerkennung des Studiengangs in den anderen Bundesländern und die möglichen beruflichen Einsatzfelder erkundigen. Wer als staatlich anerkannte*r Sozialarbeiter*in tätig werden möchte, sollte sich vor Beginn des Studiums informieren, ob eine staatliche Anerkennung möglich ist. Dies ist hauptsächlich an Fachhochschulen im Studiengang Soziale Arbeit der Fall. Insgesamt habe ich es in dieser Zeit als hilfreich erlebt, mich über meine Erfahrungen in den Bewerbungsgesprächen auszutauschen - sowohl mit sehenden, als auch mit nicht sehenden Menschen - Perspektivwechsel helfen, auf den ersten Blick seltsame Fragen zu verstehen und gut auf diese zu reagieren. Oder von mir aus Themen anzusprechen, die Arbeitgeber schwierig finden könnten - was mir von Arbeitgebern anschließend auch immer positiv rückgemeldet wurde. Zudem hatte ich in dieser Zeit eine Mentorin aus einem Mentoring Projekt für Akademikerinnen mit Behinderungen die (wieder) in den Beruf einsteigen wollten. Darum hatte ich mich am Ende meines Masters beworben. [https://ixnet-projekt.de/ix-net-austausch-und-beratung/mentoring]
Ich bin der Meinung, dass ein offener Umgang mit der eigenen Behinderung notwendig und hilfreich bei der Jobsuche ist, statt damit beschäftigt zu sein, etwas zu verschleiern oder zu verstecken - auch wenn es nicht immer angenehm und einfach ist. So kann ich den Fokus voll auf meine Stärken und Kompetenzen richten und diese auch mit meiner Behinderung verknüpfen.
Einstieg ins Berufsleben
15 Monate nach meinem Studienabschluss war es mir dann gelungen, eine Anstellung als Sozialpädagogin in einer Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) zu erhalten, in der ich bis heute tätig bin. In diesem Arbeitsbereich berate und unterstütze ich Menschen, die von Behinderung bedroht oder betroffen sind sowie deren Angehörige oder auch Fachpersonal. Es ist ein sehr abwechslungsreicher Arbeitsalltag mit Beratungsgesprächen, der Kooperation mit Fördereinrichtungen und Ämtern sowie der Vernetzungen mit den Hilfesystemen vor Ort. In diesem Handlungsfeld der Peerberatung können meine Erfahrungen als Frau mit Behinderung in das professionelle pädagogische Handeln einfließen. Durch die Trägerstruktur meines Arbeitgebers waren Dinge wie Arbeitsplatzausstattung und -assistenz bekannt, wodurch es in diesen Bereichen keine Probleme für mich gab. Wobei es hier ebenfalls hilfreich ist, genau zu benennen, was man warum braucht.