„Traut euch – das ist eine super Erfahrung!“
Inklusives Wohnen im Internat der blista: Läuft!
Maarten Kubeja* | Langfristiges Ziel des Internates ist es seit jeher, unsere Schülerinnen und Schüler für das Leben nach der Zeit an der blista „fit“ zu machen. Tägliche Begegnungen mit Menschen ohne Handicap außerhalb des blista-Campus zu ermöglichen, gehört seit Jahrzehnten zu unserem Konzept. Als zusätzliches Element bieten wir jetzt inklusives Wohnen an. Die erste Idee entstand in der Internatsleitung im Frühjahr 2016: Wir wollten in der Wohnform „Selbstständigen-Wohngruppe“ (SWG) die Möglichkeit bieten, auf Wunsch mit Sehenden zusammen zu wohnen.
Die sehenden Mitbewohnerinnen und Mitbewohner sollten dabei in einer ähnlichen Lebensphase sein wie die CSS-Schülerinnen und -Schüler, die am Ende ihrer Schullaufbahn vor dem Übergang in die nächste Lebensphase stehen, also zum Beispiel ein Studium oder eine Ausbildung beginnen oder ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvieren.
Nach dem Verlassen der blista sind unsere Absolventinnen und Absolventen damit konfrontiert, sich noch mehr als bisher in einer visuell bestimmten Umwelt alleine zurechtzufinden und zu behaupten. Im Internat möchten wir sie bestmöglich auf diesen nächsten Schritt vorbereiten. Dazu dient bereits seit Langem unser Angebot, mit Erreichen der Volljährigkeit in einer Selbstständigen-Wohngruppe mit reduzierter pädagogischer Betreuung und erhöhten Anforderungen an das selbstständige Wohnen umzuziehen. Mit dem neuen inklusiven Angebot sollte die Möglichkeit verbunden sein, bereits zu Schulzeiten im täglichen Zusammenleben mit Nicht-blistanern neue Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen zu sammeln.
Angebot fand große Resonanz
Die Idee stieß bei den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im SWG-Bereich tätig sind, sofort auf eine große Offenheit. Schnell erklärten sich Kolleginnen und Kollegen bereit, die Betreuung jeweils einer WG zu übernehmen. Bei der SWG-Belegungsplanung für das Schuljahr 16/17 wählten wir für das Angebot zwei 5er-SWGs aus, die im selben Haus liegen. Wir sahen vor, dass in jeder SWG drei Schülerinnen oder Schüler mit zwei Externen zusammen wohnen.
Ein Unsicherheitsfaktor für die Realisierung des Projektes waren für uns anfänglich die Schülerinnen und Schüler selbst: Würde das Angebot überhaupt auf Interesse stoßen und angenommen werden oder gab es größere Vorbehalte? Auf einer Info-Veranstaltung für alle, die zum Schuljahr 16/17 von einer Minderjährigenwohngruppe in eine SWG umziehen wollten, präsentierten wir unseren Vorschlag. Er stieß auf eine so große Resonanz, wie wir nicht erwartet hatten. Gleich 14 Interessierte äußerten den Wunsch, inklusiv wohnen zu wollen. Ausgewählt wurden zwei Konstellationen, bei denen sich bereits drei Schülerinnen und Schüler gefunden hatten, die sowieso zusammenziehen wollten.
Zum Schuljahresbeginn zogen zunächst diese Dreiergruppen in die beiden SWGs ein. Anschließend ging es um die Auswahl der zukünftigen Mitbewohnerinnen und Mit- bewohner. Dabei wurde von der Internatsleitung den Schülerinnen und Schülern die Entscheidung überlassen, mit wem sie gerne zusammen wohnen möchten. Die freien Zimmer wurden im Internet auf der Privatzimmerbörse des Marburger Studentenwerkes ausgeschrieben. Damit verbunden war eine kurze Beschreibung des innovativen Wohnprojektes, da wir erwarteten, dass sich jemand bewusst auf diese Form des Zusammenlebens einlässt und nicht nur ein Dach über dem Kopf sucht. Das Auswahlverfahren lief wie in jeder WG. Die Interessierten riefen an, vereinbarten einen Termin in der SWG, kamen zur Besichtigung des Zimmers und zum gegenseitigen Kennenlernen. Auf Wunsch erhielten unsere Schülerinnen und Schüler bei den Vorstellungsterminen Unterstützung durch die Betreuerinnen und Betreuer.
Bis zu den Weihnachtsferien 2016 wurden in beiden SWGs durch teilweise lebhafte und lustige „Bewerbungsgespräche“ nette Mitbewohnerinnen und Mitbewohner gefunden. Sie studierten oder machten eine Ausbildung. Dabei ergab es sich, dass in einer SWG eine reine Frauen-WG entstand.
Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter äußerten im Vorfeld die Befürchtung, bei den externen Sehenden evtl. auf Ablehnung zu stoßen, da diese sich kontrolliert fühlen könnten. Dies war jedoch nicht der Fall. Bisweilen saß man mit allen zusammen in der WG-Runde. Gemeinsamkeiten bestanden beim vegetarischen Essen, es wurde gemeinsam Ausgegangen oder eine bestandene Klausur an der Uni gefeiert. Die Studentinnen und Studenten brachten viele Eindrücke aus ihrem Universitätsalltag mit. Durch Lerngruppen und dem Besuch von Freundinnen und Freunden kam zusätzlich eine nette Atmosphäre in die Wohngruppen.
Ein schönes Resultat nach dem ersten Jahr war, dass alle sehenden Bewohnerinnen und Bewohner ihr Interesse bekundeten, ihre zunächst auf ein Jahr befristeten Mietverträge um ein weiteres Jahr zu verlängern. In einer WG machten alle blista-Schülerinnen und -Schüler ihren Abschluss, weshalb sie zum Ende des Schuljahres 16/17 auszogen. Auch beim nun folgenden SWG-Jahrgang fanden sich problemlos Interessenten, die dort einziehen wollten, auch wenn in diesem Fall die sehenden Bewohnerinnen und Bewohner bereits fest standen.
Die bisherigen Erfahrungen können wir als durchweg positiv zusammenfassen. Die sehenden Bewohnerinnen und Bewohner bringen Leben von „außen“ in die WGs. Die unterschiedlichen Tagesstrukturen der Schülerinnen und Schüler, die morgens früh raus müssen, und der Studierenden, die manchmal noch etwas liegen blieben dürfen, wirken sich durch gegenseitige Rücksichtnahme nicht negativ aus. Wir werden diese Wohnform auch im dritten Jahr weiter führen und Ausweitung ist nicht ausgeschlossen.
Das sagen drei blista Schülerinnen und Schüler der ‚ersten Stunde‘:
Dass das Internat als absolutes Novum sich ans inklusive Wohnen wagen wollte, kam uns Dreien unglaublich gelegen. Für uns sehr wichtig war damals der tatsächliche Wiederkontakt mit Sehenden. Wir alle drei waren den größeren Teil unserer Schullaufbahn regelbeschult, jedoch die vorhergegangenen ein bis fünf Jahre auf der blista oder anderen Fördereinrichtungen. Wir alle drei waren interessiert auf Erweiterung unseres Umfeldes und neue Leute. Des Weiteren stimmte die Chemie zwischen uns Dreien. Daher fiel uns die Entscheidung nicht schwer und hat sich für uns alle super bezahlt gemacht. Mit unseren Mitbewohner/innen hat sich das Zusammenwohnen als unterhaltsam, interessant und förderlich gestaltet. Jedoch nicht nur auf praktischer Ebene: Das WG-Klima hat sich viel mehr wie eine WG angefühlt, was insbesondere daran liegt, dass unsere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, anders als manche blista-Schüler, die WG als ihr tatsächliches und uneingeschränktes „Zuhause“ betrachten.
Viele kleine Erfahrungen können Stück für Stück auf das „Leben nach der blista“ vorbe-reiten; man fällt nicht ins kalte Wasser. Aber auch auf sozialer Ebene waren unsere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ein absoluter Glücksgriff, da man beispielsweise viele nette Abende verbringen konnte und durch deren Marburger Freundeskreis auch viele, erst unbekannte, dann bekannte Menschen ein- und ausgingen, weshalb die Stimmung generell lebhafter wurde. Obwohl gleichaltrig, war es ebenfalls super, mit den Jungs, die beide arbeiten und teilweise schon eine Ausbildung absolviert haben oder studieren, zusammen zu wohnen, da die WG-Mentalität einfach unterschiedlicher war als bei vier oder fünf Schülern, die, allesamt wohlmöglich sogar in der gleichen Klassenstufe, die Schulbank drücken. Dennoch war es möglich, sich, wie in jeder anderen WG, in sein Zimmer entspannt zurückzuziehen, wollte man mal seine Ruhe.
Wir sind alle traurig, diese WG verlassen zu müssen, da wir eine super Zeit hier verbrachten. Daher empfehlen wir drei das inklusive Wohnen definitiv weiter. Ganz gleich, mit welchen „externen“ Mitbewohnerinnen oder Mitbewohnern man zusammenlebt, man kann garantiert wichtige Dinge fürs Leben mitnehmen und neue Freundschaften knüpfen – also traut euch!
[* Ressortleiter Internat; Foto: Thomas Lau]