Buchtipps

Blind zu den Sternen

Buchcover „Blind zu den Sternen”

Winfried Thiessen*. Vor kurzem erzählte mir – dem Autoren dieser Zeilen – jemand folgende Geschichte: „Neulich bin ich mit dem Auto durch die Stadt gefahren und hatte einen blinden Schüler dabei. Plötzlich fragte er mich, was das denn für ein Klopf­geräusch direkt vor ihm wäre. Nun, ich habe ihm geantwortet, dass das Klopfen von den Scheibenwischern kommt, die ich angeschaltet hatte, weil ich durch den starken Regen die Fahrbahn nicht mehr richtig sehen konnte. Die Scheibenwischer würden das Wasser von der Scheibe wischen, habe ich ihm noch kurz erklärt. Dann hat er mich völlig irritiert gefragt: Aber wieso musst du die Scheibenwischer anschalten – Wasser ist doch durchsichtig?!“ Nun, ich denke, dass das eine berechtigte Frage ist, und es wird wohl nicht ganz leicht sein, eine einfache ­Erklärung für dieses Phänomen zu finden, die es dem jungen blinden Mann ermöglicht, eine nachvollziehbare Vorstellung davon zu entwickeln. Wie schwierig, aber auch wie faszinierend es sein kann, sich als blinder Mensch die Welt der Technik, der physikalischen Phänomene bis hin zur Astronomie zu erschließen und zu verstehen, davon erzählt unter anderem Gerhard Jaworek in seinem Buch Blind zu den Sternen – Mein Weg als Astronom. Jaworek hat eine Leidenschaft, ein Hobby: die Astronomie. Sein Buch ist vor allem ein Plädoyer dafür, sich als blinder Mensch den Naturwissenschaften zu öffnen und ein Appell an Institutionen, die mit sehbeeinträchtigten Menschen professionell arbeiten, das Interesse ihrer Klientel an Naturwissenschaften und Technik zu fördern. Die Gelegenheit, dem verwunderten und interessierten blinden jungen Mann eine Antwort auf seine Frage zu geben, hätte sich Gerhard Jaworek sicher nicht entgehen lassen. Jaworek weiß aus Erfahrung, welche Mühen es als Blinder kosten kann, um an geeignete Informationen und Materialien zu kommen, um sich ein umfassendes Bild über naturwissenschaftliche und technische Phänomene machen zu können. Sein über die Jahre gesammeltes Wissen und seine Lebensphilosophie versucht er nun, an interessierte „Schicksals­genossen“ in Workshops und Seminaren weiterzugeben. „Im ersten Schritt musste ich mir zunächst darüber klar werden, wie eine solche Finsternis überhaupt zustande kommt. Für Blinde ist es gar nicht so einfach, sich vorzustellen, wie die Verdunkelung durch den im Verhältnis zur Erde viel kleineren Mond und noch dazu durch dessen Abstand zur Erde, der ihn noch kleiner werden lässt, grundsätzlich funktioniert.“ Jaworek zeichnet seinen persönlichen Weg zur Himmelsphysik an einigen ausgewählten Phänomenen nach, nicht nur um bei anderen das Interesse an Astronomie, an Technik, an Naturwissenschaften zu wecken, sondern auch an den damit verbundenen philosophischen Fragen. Als Leser ist man zwar fasziniert von seinem Enthusiasmus, aber alles in allem ist sein schmales Büchlein doch nicht mehr als ein kleiner Appetizer. Leider gelingt es ihm nicht, seine Ideen und Anregungen miteinander zu einer wirklich fesselnden Geschichte zu verflechten. In Jaworeks sehr persönlicher „Wegbeschreibung zu den Sternen“ hat eindeutig sein Interesse an Naturwissenschaften und philosophischen Fragen die Oberhand über die Literatur behalten – eine wirklich gute Idee, aber leider nur mäßig umgesetzt.

Bilder im Kopf

Buchcover „Bilder im Kopf”

An meinem ersten Grundschultag klingelt die Glocke und alle Kinder eilen freudig davon. Ich trotte ihnen hinterher; dabei manchmal mit der Zunge schnalzend, höre ich auf die Wand zum meiner Linken und vermeide wild durcheinanderstehende Stühle zu meiner Linken (…) Einen Langstock habe ich nicht bei mir, Orientierungs- und Mobilitätsunterricht für Kinder meines Alters ist 1972 noch nicht vorgesehen (…) Soweit ich mich erinnern kann, habe ich schon damals das Klicken und Schnalzen mit der Zunge genutzt, um mir meinen Weg zu bahnen (…) Ich schnalze und klicke und drehe dabei meinen Kopf von einer zur anderen Seite, scanne dabei den ausgedehnten Raum vor mir (…).“

Daniel Kish, vielen aus Fernsehen und YouTube bekannt als Fledermausmann, holt uns von unserer Sternenreise wieder zurück auf die Erde. In Zusammenarbeit mit Karin Müller ist nun erstmals mit Bilder im Kopf auf Deutsch ein Theorie-, Lehr- und Methodenbuch zur Klick-Echoortung von ihm erschienen. Daniel Kish, der die Klick-Echoortung selbst schon seit frühester Kindheit als Technik anwendet, hat es auf diesem Gebiet zu einer ziemlichen Virtuosität gebracht, die es ihm sogar erlauben soll, Fahrrad zu fahren. Vergessen wir diese Spitzenleistung aber einmal, denn dies lenkt oft vom eigentlichen Nutzen der Sache ab. Laut Kish wird die Echoortung im Alltag von den meisten Blinden bereits eingesetzt, wenn auch nur passiv, unbewusst und wenig zielgerichtet – zum Beispiel, indem sie dem Hall ihrer Schritte oder des Stockes lauschen, um sich so zusätzliche Umgebungsinformationen zu holen. Ihm geht es darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es mit der Klick-Echoortung eine Technik gibt, die es vielen blinden Menschen ermöglichen würde, ihren Mobilitätsradius zu erweitern, indem sie sich aktiv - also durch die Klick-Echoortung – mehr Informationen über ihre nähere und weitere Umgebung einzuholen lernen, als es bisher bei ihnen im Alltag der Fall war. Kish wägt auch das Für und Wider des Klicks in lauter Umgebung, bei Regen oder starkem Wind ab und versucht so, auch Zweifler von dieser Technik zu überzeugen. Kish ist sich sicher, dass die Klick-Echoortung mehr Vor- als Nachteile für die Lebensqualität blinder Menschen mit sich bringt.

„Es wurden Bedenken über die soziale Unangemessenheit des Klickens geäußert. Wir konzentrieren uns auf diskretes Klicken, welches der Nutzer an die jeweilige Situation anpasst. (…) Natürlich bemerkten andere blinde Menschen das Klicken. Aufgrund ihrer erhöhten akustischen Sensibilität unterstellen blinde Menschen sehenden Menschen oft einen höheren Aufmerksamkeitsgrad auf das Klicken, als dies tatsächlich der Fall ist. Was sehenden Menschen wirklich auffällt und sie die Köpfe schneller drehen lässt als irgendetwas anderes, ist der weiße Langstock. Wären derartige Argumente gegen die Nutzung von etwas Ungewöhnlichem stets in Anschlag gebracht worden, hätte sich die Benutzung einer Brille (…) wohl niemals durchgesetzt, allein aus Angst, mit ihr ‚seltsam‘ auszusehen. Dasselbe Argument kann auf die Nutzung eines Langstocks, eines Rollstuhls oder sonst irgendeines anpassungsfähigen Hilfsmittels bzw. einer Technik angewandt werden, welche ungewöhnlich erscheint, aber die Lebensqualität des Nutzers verbessert. Unserer Ansicht nach sollte die Form der Funktion folgen und nicht umgekehrt. Denn was ist unangenehmer: Eine blinde Person, die nicht in der Lage ist, zügig, elegant und sicher von einem Punkt zum anderen zu gelangen, oder jemand, der sich die dazu notwendigen Informationen klickend einholt? Einem blinden Kind Informationen vorzuenthalten, die es durch das Klicken erhält, bedeutet so viel, wie ein sehendes Kind zu zwingen, mit halbgeschlossenen Augen durchs Leben zu gehen.“

Kish hat mit Bilder im Kopf ein sehr engagiertes und kämpferisches Buch geschrieben, mit dem Ziel, der Klick-Echoortung endlich die Stellung als Mobilitäts- und Orientierungstechnik zu geben, die ihr nach Meinung des Autoren zusteht.

„Wir halten es für grundlegend, dass das Auffinden von Stolperstellen fundamental für die Sicherheit und für jeglichen Mobilitätsvorgang ist und somit jeder Unterrichtende angehalten ist, eine Methode zu lehren, die diesen Gesichtspunkt berücksichtigt. Trotzdem sollte dieser Gesichtspunkt nicht andere Gesichtspunkte wie die Orientierung in größeren Umgebungszusammenhängen, Geschwindigkeit und Kenntnis der Interaktion mit diversen Dingen, Umgebungsbewusstsein, ästhetische Wertschätzung und - vielleicht noch wichtiger - persönliche Freiheit und Würde, in den Schatten stellen oder ganz überdecken.“

Bilder im Kopf beginnt mit einigen biografischen Aspekten aus dem Leben von Daniel Kish und seinen eigenen Erfahrungen mit der Klick-Echoortung, danach folgen einige Kapitel mit theoretischen Betrachtungen über Wahrnehmung, Lernen, Motivation und Signalverarbeitung. Das Buch schließt mit eingehenden Erläuterungen und Beschreibungen der Unterrichtsmethoden, die einen wesentlichen Teil des Buches einnehmen. Bilder im Kopf ist ein Lehrbuch und weniger ein Lesebuch!

* Pädagogischer Mitarbeiter im Internat