Editorial 2/2017

blista-Direktor Claus Duncker

Liebe Leserin, lieber Leser,

manchmal stolpert man über einen Satz und er geht einem nicht mehr aus dem Kopf.
So ging es mir beim Lesen eines Gespräches zwischen Desmond Tutu, dem Erzbischof aus Südafrika, und dem Dalai Lama, dem geistigen Oberhaupt der Tibeter. Sie erinnern daran: „Lebensfreude ist unser Geburtsrecht“.

Während ich noch über diese Aussage nachdachte, wurde im Radio als Erfolg vermeldet, dass sich die Inklusionsrate im letzten Jahr in Deutschland um 3,5 Prozentpunkte erhöht hat. Ich fühlte mich spontan an Börsenmeldungen oder Zeiten der Planwirtschaft erinnert, als steigende Wirtschaftsleistungen etwas über unser Wohlbefinden aussagen sollten. Wird also die Qualität unseres Bildungssystems jetzt nur noch an solchen Kennzahlen gemessen? Was ist mit Werten wie Lebensfreude, ob unsere Kinder gerne in die Schule gehen, ob sie optimal gefördert werden und ob sie etwas für das spätere Leben lernen? Ich fürchte, das verliert in unserem Bildungssystem immer mehr an Bedeutung.

Dieser Eindruck entsteht bei mir zumindest, wenn ich mir die Veränderungen an der blista in den letzten Jahren anschaue. Noch vor 5 oder 6 Jahren war es üblich, dass Eltern mit ihren Kindern spätestens zum Jahresende den weiteren Bildungsweg planten. Es fanden Informationsgespräche statt. Im Frühjahr organisierten wir Orientierungs­wochen und danach fiel eine wohl überlegte Entscheidung. Fragten wir nach dem Grund für den Wechsel, so bekamen wir meist die Antwort: „Ich möchte das spezialisierte Gymnasium besuchen“.

Und heute? Da rufen im Mai besorgte Eltern an, ob wir in den nächsten Tagen nicht ein Infogespräch oder eine Hospitation organisieren könnten. Ihre Tochter oder ihr Sohn könnte dann auch sofort nach Marburg wechseln. Man spürt den enormen Druck, unter dem Eltern und Kinder stehen. Kamen früher im laufenden Schuljahr 1 bis 2 Kinder zu uns, waren es im letzten Schuljahr 18, ­Tendenz steigend.

Man gewinnt den Eindruck, dass Eltern und Kinder unter dem Postulat, dass eine erfolgreiche Bildung nur eine inklusive Bildung sein darf, oft nicht mehr den Mut haben, die ­Zukunft ihrer Kinder nach Kriterien, wie ­„Lebensfreude“ oder „optimale Förderung“ zu planen. Und der Grund für den Wechsel ist immer öfter: endlich mal wieder einfach Jugendlicher sein zu können, ohne sich ständig als „Sehbehinderter“ erklären zu müssen. „Man ist doch keine Behinderung auf zwei Beinen.“
 
Deshalb meine Bitte:
Wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, auch der Überzeugung sind, dass sich der Weg nach Marburg lohnt, machen Sie anderen Mut, diesen Weg auch gegen den Strom zu gehen, auch wenn die Inklusionsstatistik dadurch einen kleinen Knick bekommt.

Ihr Claus Duncker