Zeitenwende – vom Leben nach der blista

Hintergrund und blista-Zeit

Lea Becker, Abitur 2018 | Zu Beginn der zwölften Jahrgangsstufe wechselte ich aufgrund einer Sehnervschädigung im Alter von 16 Jahren an die blista. Da ich bis zu diesem Zeitpunkt normalsehend war, durchlief ich zunächst die blindentechnische- Grundrehabilitation (kurz BTG), um blindentechnische Hilfsmittel sowohl für den privaten als auch schulischen Alltag zu erlernen (Braille, Langstock, Sprachausgabe). Während dieser Zeit motivierte mich das Ziel, auf diese Weise wieder arbeitsfähig zu werden und mein Abitur machen zu können. Ein anschließendes Studium war immer mein Wunsch gewesen, an welchem ich weiter festhielt.

An der blista-Zeit war besonders für mich, dass bei all den Hürden, die das Annehmen einer Sehbehinderung für mich bereithielt, ein „normales“ Leben als Jugendliche möglich war. Da alle anderen Mitschüler*innen ebenfalls eine Seheinschränkung hatten, war die Sehbehinderung an sich nicht Thema, Schüler*innen, Lehrer*innen und Betreuer* innen waren gleichermaßen daran gewöhnt, was alles sehr normalisiert hat. Während meiner zwei Jahre blista habe ich versucht, meine Arbeitstechniken stetig zu verbessern, da mir bewusst wurde, dass ich so weitestgehend selbstständig arbeitsfähig werden kann, auch wenn dies nicht immer einfach war. In der 13. nutzte ich zusätzlich die Abgangsbetreuung für Textverarbeitung, Orientierung und Mobilität, mit dem Ziel, anschließend in Marburg zu studieren.

Lea steht an einem irischen Sandstrand zwischen hohen Holzpfählen, die Arme ausgestreckt zu den Seiten, hinter ihr Meer mit Wellen und teils bewölkter blauer Himmel.

Studienwunsch und Entscheidung für Marburg

Früher als Kind und Jugendliche wollte ich gerne Medizin studieren. Mir war aber bewusst, dass ein Medizinstudium und eine spätere Tätigkeit als Ärztin mit meinen zwei Prozent Sehrest auf einem Auge ziemlich unrealistisch sein würden. Daher entschied ich mich für einen Studiengang, der in Richtung Medizin tendierte, aber mit einer Sehbehinderung später gute berufliche Möglichkeiten bot: Psychologie. Ehrlich gesagt wusste ich zu Beginn des Studiums 2018 noch nicht, welche Richtung der Psychologie mich ansprechen würde. Ich dachte aber, dass der „klassische“ Therapeutenberuf nicht das ist, was ich mir für später vorstelle. Trotzdem sprach mich dieses Studium am meisten von den „klassischen“ Studiengängen für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung (z.B. Jura oder Lehramt) an. Marburg als Studienort empfand ich als wirklich schöne, studentische Stadt, der Fachbereich Psychologie hat einen guten Ruf und im Vergleich zu anderen Städten gehören Langstöcke hier ins Stadtbild. So begann ich, Psychologie zu studieren.

Anfänge

Wohnungstechnisch konnte ich mir entweder eine WG oder ein Studierendenwohnheim gut vorstellen. Ich hatte mich nach ein paar WG-Castings für das Wohnheim in der Gutenbergstraße entschieden. Dieses liegt für die Psychologie ideal, direkt gegenüber vom Institutsgebäude. Außerdem hat man hier ein eigenes Bad, was echter Luxus für ein Wohnheim ist. Die Küche muss man sich je nach Flur mit ca. neun bis vierzehn Personen teilen, was eine Herausforderung sein kann. Generell hängt viel davon ab, auf welchem Flur man landet. Bei mir entwickelte sich das Zusammenleben leider über Smalltalk nicht wirklich hinaus. Alle Freundschaften knüpfte ich übers Studium. Mein Zimmer hatte eine super Lage und ich habe die vier Jahre im Bachelor dort gewohnt.

Der Beginn des Studiums war ziemlich herausfordernd für mich. Einen neuen Stadtteil von Marburg zu erlernen (durch ein Mobilitätstraining), barrierefreies Studienmaterial zu organisieren, mit Assistenz arbeiten zu lernen, den Stoff in hohem Tempo mitzunehmen und parallel einen neuen Freundeskreis aufzubauen, war anstrengend. Es dauerte ungefähr zwei Semester, bis ich mich ins Studierendenleben eingefunden hatte. Die ersten Semester waren voll von Grundmodulen, die teilweise recht visuell ausgelegt sind. Um dies auszugleichen, gibt es teilweise Tutorien für sehbeeinträchtigte Studis oder man setzt seine Assistenz ein, um Inhalte zugänglich umarbeiten zu lassen. Eine funktionale Routine zu finden, benötigt eine gewisse Eingewöhnungsphase. Mit der Zeit verbessert sich der Arbeitsflow und man lernt, wann und wie man individuell mit Assistenz arbeiten möchte. Außerdem kann man mehr Vorwissen aus vorherigen Modulen einbringen und die Module werden insgesamt anwendungsbezogener. Auch Statistik ist davon keine Ausnahme. Ich habe mich häufig mit meiner Assistenz zusammengesetzt, um die Inhalte zu erlernen. Die Klausuren sind mit Nachteilsausgleich entweder mit (meist) eigenem Laptop und einer barrierefreien Word-Version oder mündlich abgehalten worden. Eine zusätzliche Besonderheit war die Corona-Pandemie ab dem vierten Semester. Abgesehen von den starken Einschränkungen für das Privatleben hat sich das Studieren für mich dadurch deutlich verbessert. Da wir Videos zur Verfügung bekamen, die man mehrfach anhören konnte, war ich endlich in der Lage, mir synchron zur Vorlesung Notizen zu machen. Vorher setzte ich mich in die Vorlesung (leider meist ohne barrierefreies Skript, weil nicht rechtzeitig hochgeladen) und versuchte, ins Nichts hinein Notizen zu machen. Frustrierend, wenn diese Notizen genau den Wortlaut der Folien abbildeten. Die Corona-Zeit hatte auch zur Folge, dass ich bei unbekannten Kommiliton*innen viel häufiger direkt meine Behinderung ansprechen musste. In Seminaren und Vorlesungen war es bis dahin durch den Blindenstock direkt ersichtlich, dass ich eine hochgradige Sehbehinderung habe. Dies fiel durch das Online-Format weg.

Studentenwohnheim in Irland: Ein breiter, ruhiger Fußweg führt zwischen modernen mehrstöckigen Wohngebäuden hindurch, gesäumt von Büschen und Bäumen.

Praktikum und Ausland

Im fünften Semester steht in der Psychologie ein Praktikum an. Im vierten Semester werden in den Anwendungsfächern neben der klinischen Psychologie und der Neuropsychologie auch die Arbeits- und Organisationspsychologie behandelt und mir wurde klar, dass ich psychologisch gerne in der Wirtschaft arbeiten möchte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich nicht sicher, was ich mit dem Studium später genau machen möchte. Therapeutin hat sich für mich nie richtig angefühlt, obwohl mir die klinischen Anteile im Studium meist Spaß gemacht haben. Daher suchte ich mir im wirtschaftlichen Bereich ein Praktikum bei den Würzburger Stadtwerken in meiner bayerischen Heimat. Dort war ich in der Unternehmensentwicklung untergebracht und konnte erste Erfahrungen sammeln, was es heißt, in einem großen Unternehmen zu arbeiten. Da ich die erste blinde Studentin war, die dort ihr Praktikum machte, musste ich mich stets gut mit meiner Chefin und meinen Kolleg*innen absprechen, z.B. welche Arbeiten für mich barrierearm möglich sind und wo Grenzen bestehen. Ins Gespräch zu gehen, erschien mir sehr wichtig, um Verständnis für die eigene Situation zu schaffen und einen guten Grundstein für das gemeinsame Zusammenarbeiten zu legen. Ich machte die Erfahrung (wie eigentlich auch im Privatleben), dass manche Menschen Naturtalente im Umgang mit einer Sehbeeinträchtigung sind und andere etwas mehr Erklärungen und Wiederholungen benötigen. Es war allerdings nicht immer einfach, die eigenen Kompetenzen und die Expertise, die man ja mitbringt, in einer völlig neuen Situation auch anwenden zu können und die Gründe dafür zu kommunizieren, gerade bei technischen Problemen, für die es im Unternehmen nicht immer eine schnelle Lösung gibt. Möglichkeiten und Grenzen mussten so stets neu austariert werden, um arbeitsfähig zu bleiben.

Während des Studiums hatte ich außerdem den Wunsch, ins englischsprachige Ausland zu gehen. In meiner Regelschulzeit war ich bereits für ein paar Monate in Australien im Schüleraustausch. Im Studium wollte ich die Gelegenheit nutzen, an diese unfassbar bereichernden Erfahrungen anzuknüpfen. Dies ist mit hochgradiger Sehbehinderung natürlich mit zusätzlichen Herausforderungen verbunden, besonders im Vergleich zu meiner ersten Auslandserfahrung als Sehende. Durch Corona hatte sich auch das geplante Zeitfenster verschoben. Ich verbrachte meine zwei Semester zwischen Bachelor und Master an der University of Limerick (Irland). Ein Auslandsjahr über Erasmus erfordert natürlich viel Planung und Vorlauf (vor, während und danach), aber der Aufwand hat sich am Ende sehr gelohnt. Für mich standen zwei behinderungsspezifische Unterstützungsangebote im Vordergrund: ein individuelles Mobilitätstraining, um mich sicher auf dem Campus und in der Umgebung zurechtzufinden, sowie die Organisation einer Assistenz, die mich im Studienalltag unterstützt und teilweise begleitet. Über Kontakte des Disability- Departments von der Universität organisierte ich mir ein Mobilitätstraining. Dies war wirklich sehr hilfreich und hat super geklappt. Im Gegensatz dazu stellte sich die Suche nach einer geeigneten Assistenz als eine der größten Hürden heraus. Schon im Vorfeld meines Auslandssemesters hatte ich mit dem Disability Department besprochen, welche konkreten Aufgaben eine akademische Assistenz übernehmen müsste. Ich erklärte, dass ich – wie in Deutschland – nach einer Person suche, idealerweise ebenfalls Student*in, die mich individuell im Studienalltag unterstützt und studienrelevantes Material zugänglich macht. Besonders wichtig war mir der sichere Umgang mit Textverarbeitungsprogrammen – spezielle Vorkenntnisse waren nicht erforderlich. Trotz dieser klaren Absprachen wurde mir wiederholt eine Agentur empfohlen, die sich im Nachhinein als klassischer Pflegedienst entpuppte – also genau das Gegenteil von dem, was ich suchte. Das war frustrierend, da ich den Bedarf an akademischer Unterstützung im Vorfeld detailliert erläutert hatte. Ich wandte mich schließlich direkt an Dozent*innen der Psychologie, um über persönliche Kontakte weiterzukommen. Auch ein Post in den sozialen Medien brachte hilfreiche Kontakte – so fand ich schließlich passende Unterstützung durch zwei irische Studentinnen. Dennoch waren die ersten Wochen sehr kräftezehrend.

An der irischen Universität lebte ich im Wohnheim mit internationalen Studierenden aus aller Welt. Auf dem Campus war ich in diesem Jahr allerdings die einzige blinde Studentin. Die irische Gesellschaft habe ich als offen, herzlich und hilfsbereit kennengelernt. Besonders bereichernd waren für mich der interkulturelle Austausch, die eindrucksvolle Natur und die lebendige Kultur. Ich erinnere mich daher gerne an diese ganz besondere Zeit.

Lea steht vor einem Gebäude des Fachbereichs Psychologie der Uni Marburg und hält stolz ihre Masterarbeit in der Hand.

Zukunft und Perspektive

Gerade bin ich mit meinem Master in Psychologie fertig geworden. In der nächsten Zeit werde ich mich auf verschiedene Stellen in meinem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie bewerben. Der Übergang von Studium zu Beruf wird sicherlich spannend, ich freue mich darauf. Insgesamt ist eine wichtige Erkenntnis, die ich persönlich aus allen bisherigen Abschnitten mitnehme, dass neben einem gut funktionierenden Netzwerk eine umfassende Kommunikation ganz entscheidend ist. Wenn man positiv auf die Leute zugeht, seien es Dozent*innen, Kommiliton*innen oder Passanten, und offen über sein Anliegen/Bedürfnis spricht, kommt man am weitesten. Manche Menschen haben Berührungsängste oder wissen nicht, was sie zum Beispiel tun können, um eine barrierearme Teilnahme an einem Seminar zu ermöglichen. Natürlich geht nicht immer alles reibungslos und man steht auch viel in der Eigenverantwortung, aber bestimmte Kleinigkeiten, z.B. das Hochladen eines Skripts ein paar Tage vor der Vorlesung, sind schon hilfreiche Vereinbarungen. Natürlich kann es auch kräftezehrend sein, immer wieder über die eigene Behinderung zu reden und aufzuklären. Ich versuche mir dann bewusst zu machen, dass die meisten Menschen vermutlich noch nie direkt mit einem blinden Menschen zu tun hatten (außerhalb von Marburg). Also auch, wenn es manchmal an die Substanz gehen kann, lohnt es sich. Besonders in Phasen, in denen man sich neu irgendwo einfindet oder Veränderungen anstehen, kann das anstrengend sein, jedoch kann die eigene Situation durch die Behinderung gleichzeitig einen guten Türöffner darstellen.