Zeitenwende — vom Leben nach der blista

Lehramtsstudium Englisch und Deutsch, Isabel Kern, Abitur 2012

Ein Kindheitstraum …

Schon als ich noch klein war, war meiner ­Familie eigentlich klar, was ich später einmal beruflich machen würde. Als Grundschulkind hatte ich bereits eine ausgeprägte Leidenschaft zum Schule spielen an den Tag ­gelegt, wobei mir zum Leid meiner Schwester natürlich die Lehrerrolle zufiel. Als mit fortschreitendem Sehverlust dann schließlich auch die Alternative der Augenärztin für mich wegfiel, stand mein Entschluss schon früh fest: Ich werde später einmal Lehrerin!

Mit diesem festen Vorsatz suchte ich mir ein passendes Gymnasium aus, auf das ich nach der Grundschule gehen wollte, um meinen Traum zu verwirklichen, und blieb dort bis zur achten Klasse. Die Jahre auf dem Gymnasium waren damals auch mit meinem noch guten Sehrest von insgesamt 40 % sehr schwer und anstrengend für mich, da die Lehrer − woran sich bis heute wenig geändert hat − leider absolut nicht für den ­Umgang mit (seh)behinderten Schülern ­ausgebildet worden waren und ich weder ausreichende Hilfsmittel noch eine Schul­begleitung hatte. Nachdem mein Sehver­mögen nach einer missglückten Operation schließlich auf insgesamt 10 % sank, war es für mich an der Zeit, mich nach anderen ­Beschulungsmöglichkeiten umzuschauen.

Da ich zunächst noch nicht mein gewohntes Lebensumfeld verlassen wollte, besuchte ich zunächst für anderthalb Jahre das Landes­bildungszentrum für Blinde in Hannover und machte dort sehr erfolgreich ­meinen erweiterten Realschulabschluss. ­Zusammen mit einem guten Freund ging ich schließlich nach Marburg, um dort das All­gemeine Gymnasium an der blista zu besuchen. Zur Krönung meines 19. Geburtstags erhielt ich dann im Sommer 2012 mein ­Abitur.

… und seine Verwirklichung

Damit hatte ich die erste Hürde des schon in meiner Grundschulzeit gefassten Plans, Lehrerin zu werden, genommen und ich bewarb mich an der Leibniz Universität Hannover um einen Studienplatz für den Bachelor in den Fächern Englisch und Deutsch für das Lehramt an Gymnasien. Die Zulassung erfolgte ohne Probleme und ich konnte bereits im Oktober 2012 das Studium beginnen. Hannover als Studienort habe ich zum einen ­gewählt, da ich die Stadt schon kannte und sie sehr mochte, und zum anderen, weil ich wieder in der Nähe meiner Familie leben wollte, allerdings in einer eigenen Wohnung.

Den Bachelor habe ich trotz einiger bürokratischer und finanzieller Hürden innerhalb der Regelstudienzeit gemeistert. Die Ausstattung der Uni in Hannover ist für Studierende mit einer Sehbehinderung recht gut, da es beispielsweise in der Bibliothek einen extra Raum für sehbehinderte und blinde Studierende mit entsprechenden Hilfsmitteln gibt, sowie eine Blindenassistenz, die Texte scannt, damit sie entweder vergrößert oder mit einer Braillezeile gelesen werden können.

Insgesamt gibt es vier blinde Studierende an der Uni, wobei die eine Hälfte Sonder­pädagogik studiert. Gegen diesen Studiengang habe ich mich bewusst entschieden, da ich aufgrund der wenigen Förderschulen nicht an einen bestimmten Ort gebunden sein wollte und es für eine blinde Sonderschullehrerin auch nicht einfach ist, Lehrkräfte an unterschiedlichen Schulen zu beraten, die dort inklusiv unterrichten.

Bis kurz vor dem Ende meines Bachelors ist mein Studium dann auch recht gut verlaufen. Als ich jedoch mit einem Bekannten zusammen in eine Wohngemeinschaft zog, war das Sozialamt, das bisher meine Studienassistenz bezahlt hatte, der Meinung, dass mein erwerbstätiger Mitbewohner meine Assistenz zu zahlen habe, da das Amt in unserem Fall eine Bedarfsgemeinschaft unterstellte und mein Mitbewohner und ich laut damaliger Gesetzeslage zusammen nicht mehr als 3.200 € besitzen durften.

Daraus resultierte ein anderthalb Jahre dauernder Papierkrieg. Diesen gewann ich zwar letztendlich, allerdings kostete mich die Auseinandersetzung sehr viele Nerven, weil ich jedes halbe Jahr darum bangen musste, ob ich auch weiterhin eine Assistenz finanziert bekomme, weshalb ich mehrmals kurz davor stand, mein Studium abzubrechen – auch weil durch das Beharren des ­Sozialamtes auf Bedarfsgemeinschaft meine Blindenhilfe auf dem Spiel stand. (An dieser Stelle eine Info: eine persönliche Assistenz wird seit 2017 vom Sozialamt bezahlt, wenn das Nettoeinkommen unter 1.300 Euro liegt und kein Vermögen über 30 Tausenden Euro vorhanden ist).

Nach erfolgreichem Abschluss des Bachelors geht es nun im Master für mich nicht weniger haarsträubend zu. Während mir im ­Bachelor von der Uni noch ein ausreichender Nachteilsausgleich gestattet wurde, war es mir im Master bei Prüfungen plötzlich nur noch erlaubt, 50 % länger zu schreiben und ein mobiles Bildschirmlesegerät zu verwenden, unter dem man allerdings nicht schreiben kann. Es wurde mir nicht erlaubt, mündliche statt schriftliche Prüfungen abzulegen, eine Assistenz zur Verfügung zu haben oder Klausuren unter Einzelaufsicht an einem Computer zu schreiben, all das erschwerte das Schreiben meiner von der Prüfungsordnung vorgegebenen Klausuren. Da ich meine Klausuren unter nicht optimalen ­Bedingungen schreiben musste und auch von der ungünstigen Haltung beim Schreiben während der Klausuren ziemlich schnell Rücken- und Kopfschmerzen bekam, konnte ich das Wissen, das ich besaß, nicht zu hundert Prozent abrufen. Bestanden habe ich die Klausuren trotzdem, auch wenn ich dabei unter meinen Möglichkeiten bleiben musste, da auf meine Vorschläge, dass ich die Klausuren im Sehbehindertenraum schreiben bzw. dort das Bildschirmlesegerät oder den PC benutzen könnte, vom Prüfungsausschuss nicht eingegangen wurde. Beim Bachelor war es noch kein Problem – aber jetzt auf einmal war es das.

Erschwerend kam noch hinzu, dass die Entscheidung über einen Nachteilsausgleich ein ganzes Semester dauerte, weshalb ich die Hausarbeiten und Klausuren nur mit Glück und aufgrund meiner zuvorkommenden ­Dozenten überhaupt antreten konnte. Da die genehmigten Punkte des Nachteilsausgleiches untragbar für mich waren, stellte ich schließlich einen neuen Antrag mit ausführlichem mehrseitigen Begründungsschreiben, in dem ich darlegte, weshalb ich bestimmte Dinge bei Prüfungen benötige (zum Beispiel das Ersetzen von Aufgaben mit Diagrammen und Schaubildern durch vergleichbar schwere Aufgaben, nur eben ohne bildhafte Darstellung). Dieser Antrag wurde jedoch wiederum nach einem Semester ­Wartezeit abgelehnt. Im Grunde hätte ich die Uni verklagen müssen, da die bürokratischen Hürden, die mir in den Weg gelegt wurden, mein Studium insgesamt gefähr­deten. Da ich das Studium jedoch mit viel Energie und Aufwand – wenn auch unter ­erschwerten Bedingungen – bereits fast ­beendet habe, versuche ich mich, auf der Zielgeraden angekommen, einfach irgendwie möglichst erfolgreich durchzuschlagen, um dann endlich mein Referendariat beginnen zu können.

Resümee

Trotz aller Widrigkeiten versuche ich meinen Weg zu gehen. Das mache ich vor allem, weil ich in jedem Praktikum, in dem ich unterrichten durfte, immer wieder feststelle, wie viel Spaß mir dieser Beruf macht, und dass das genau das ist, was ich immer machen wollte. Zurzeit der Abfassung dieses Textes befinde ich mich gerade wieder in einem Praktikum an einem hannoverschen Gymnasium und unterrichte dort eine 7., 9. und eine 11. Klasse in Deutsch. Dieses Praktikum gefällt mir besonders gut, da ich ganze Unterrichtseinheiten selbst gestalten und durchführen darf.

Besonders interessant und inspirierend ist für mich auch der Unterricht einer Lehrerin, die nur wenige Prozente mehr sieht als ich, was mir wiederum zeigt, dass es sich bei meinem Berufswunsch nicht um bloße Hirngespinste eines Kindes handelt, sondern dass es durchaus auch als fast blinde Lehrerin möglich ist, an einer Regelschule ganz ohne ­Assistenz zu unterrichten, was von vielen Leuten eher als Naivität empfunden wird. Dazu muss ich sagen, dass ich noch 10 % sehe, allerdings bei einem extrem eingeschränkten Gesichtsfeld, und deshalb als ­gesetzlich blind gelte. Oft muss ich mich für meine Berufswahl rechtfertigen oder sehe erstaunte Blicke.

Die Lehrer, die mich bisher in meinen vielen Praktika begleiteten, waren da schon weniger skeptisch und freuten sich, ansehen zu dürfen, wie ich im Unterricht mit meiner Sehbehinderung umgehe.

Bisher habe ich meine Studienwahl noch nicht bereut. Ich kann später das machen, was ich gerne mache − nämlich Schülern neues Wissen vermitteln, Kreativität fördern und mit literarischen Texten arbeiten, dabei sind die Bedingungen für Schwerbehinderte in diesem Bereich besser als für „Nichtbehinderte”.

So ist es beispielsweise sehr wahrscheinlich, dass ich einen Referendariatsplatz an meinem Wunschort bekomme, da es mir aufgrund meiner eingeschränkten Mobilität nicht möglich ist, überall zu unterrichten. Die Einstellungschancen sind aufgrund der Schwerbehindertenquote sehr gut, die ­Stundenzahl ist um drei Stunden reduzierbar, die trotzdem noch bezahlt werden, und auch als blinde Lehrerin kann man durchaus verbeamtet werden.

Insgesamt sind das also recht gute Aussichten. Voraussetzung dafür sind allerdings sehr starke Nerven, Durchhaltevermögen, Durchsetzungsvermögen und vor allem ein guter Rückhalt von der Familie. Ohne diesen Rückhalt von meiner Familie und vor allem meinem Partner hätte ich mein Studium wohl schon längst aufgegeben. So bin ich mir jedoch sicher, auch noch das letzte Jahr meines Studiums sowie das Referendariat durchzuhalten, um an mein lang ersehntes Ziel zu kommen.