Bewegend und erfrischend

- drei Tage Festival

Einen Sprung ins kalte Wasser – den kann man beim Louis Braille Festival zwar nicht ­erleben, wenn man sich im Windsurfen ausprobiert, denn da ist das Wasser vorgewärmt, aber eine Vielzahl neuer Erfahrungen, beim Braille-Hören, Kart-Fahren oder Speed-­Dating sammeln.

Oskar Ente berichtet:

Kaum steige ich aus dem Shuttlebus, der mich zum Georg-Gaßmann-Stadion gebracht hat, brausen schon die ersten Tandems an mir vorbei. Mit Beifall und Jubel­rufen werden die Radfahrer mit und ohne Seheinschränkung bei ihrer Ankunft auf dem Festivalgelände begrüßt. Ich erfahre, dass die Teams aus ganz Deutschland und sogar aus dem Baltikum angereist sind und einige seit mehreren Tagen auf dem Sattel sind.

Mit der Sternfahrt bringen sie das Motto „Gemeinsam geht alles!“ nach Marburg. Ein passender Auftakt für die kommenden Tage.

Ich möchte mir zunächst einen Überblick verschaffen und lasse mich von einer Helferin zum Tastmodell des Festivalgeländes ­führen. Zusammen mit dem Programm in Punktschrift unter den Fingern erhalte ich so einen Eindruck, wo die Veranstaltungen stattfinden, die ich besuchen möchte.

Da noch etwas Zeit bleibt, bis der Workshop beginnt, für den ich mich im Vorfeld angemeldet hatte, schlendere ich über den Festivalplatz und verweile an einigen Ständen. Ich ertaste die eigentümliche Kopfbedeckung einer traditionellen hessischen Tracht und kreiere im Kunst-Atelier aus den ungewöhnlichsten Materialien ein tastbares Bild. Vorbei an der Führhund-Lounge, in der Führhundhalter über ihre vierbeinigen ­Begleiter fachsimpeln und Interessierte sich an einem Simulator herumführen lassen, geht es schließlich in Richtung der Seminarräume.

Von der Außenbühne schallen die rockigen Klänge der „Sunday Morning Tea Party“ ­herüber.

Beim Naturheilkunde-Workshop geben Ausbilder des Zentrums für physikalische Therapie am Berufsförderungswerk Mainz einen Eindruck davon, was heutzutage als Wellness angeboten wird. Schröpfen, Akupressur, Meditation – alles wird vorgeführt oder kann von uns Teilnehmern am eigenen Körper erspürt werden.

Tiefenentspannt, wie ich jetzt bin, fühle ich mich bereit für mehr Action. Im Sieben-Wunder-Pool kann ich unter anderem das Windsurfen ausprobieren. Gut, dass ich meine ­Badehose eingepackt habe! Nachdem ich mein Gleichgewicht und meine Koordination im Surf-Simulator an Land auf die ungewohnten Bewegungsabläufe eingestellt habe, traue ich mich im Neoprenanzug aufs echte Brett im Schwimmbecken. Unter geduldiger Anleitung gelingt es mir sogar, das Segel aufzuholen und für kurze Zeit die ­Balance zu halten.

Nach diesem feucht-fröhlichen Vergnügen will ich es etwas ruhiger angehen und erlebe im Braille-Zelt, wie man Punktschrift zum Klingen bringen kann. Je ein Instrument stellt einen Braillepunkt dar – wird ein Buchstabe gespielt, kommen alle Instrumente zum Einsatz, die die zugehörigen Punkte darstellen. Fasziniert höre ich eine Weile zu und kann bald kurze Wörter „erhören“.

Später schaue ich noch im Verkehrsgarten vorbei. Mit Tret-Karts können die Besucher hier allein oder mit sehender Anleitung über den Platz düsen. Wichtiger als die Verkehrsregeln ist dabei der Spaß. Die vielen neuen Eindrücke haben mich so hungrig gemacht, dass ich mich anschließend im Festzelt mit einer warmen Mahlzeit stärke. Ausklingen lasse ich meinen ersten Festivaltag bei der Revue „100 Jahre – 100 Talente“. Auch als Nicht-blistaner ist es interessant, den Geschichten der ehemaligen und heutigen Schüler der Deutschen Blindenstudienanstalt zu lauschen. Ich freue mich schon, die Schule am nächsten Tag zu besichtigen.

Für den Samstag habe ich mir eine Reihe von Aktivitäten vorgenommen und starte zum Markt der Begegnungen. An zahlreichen Ständen stellen sich hier die Vereine und Einrichtungen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe vor und bieten kleine Spiele und Aktionen an, wie etwa Darts werfen oder ein Geräusche-Quiz. Ich decke mich mit Informationsmaterialien ein und komme mit Standbetreuern und anderen Festivalbesuchern ins Gespräch. Eine schöne Gelegenheit, mit den Einrichtungen, wie etwa meiner Hörbücherei, einmal persönlich in Kontakt zu treten. Allerdings habe ich über die netten Gespräche bald völlig die Zeit vergessen. Ich bahne mir den Weg durch die Besucher aus der Halle. Draußen dringt aus der Ferne Torjubel an meine Ohren – das internationale Blindenfußball-Turnier scheint in vollem Gange zu sein.

Da ich am Vortag schon die wichtigsten Wege abgegangen bin, klappt die Orientierung auf dem Festivalgelände heute deutlich besser und die sehenden Helfer brauche ich nur noch vereinzelt – wie zum Beispiel jetzt, um nicht zu spät zum nächsten Workshop zu kommen.

Zu meiner Überraschung bin ich nicht der einzige Mann beim Yoga-Kurs mit Joana Zimmer – von jung bis alt, ob Sportmuffel oder bereits Yoga-begeistert, alle sind willkommen. Doch wer dachte, hier geht es ganz entspannt zu, hat sich geirrt. Körperlich verlangt einem das Ashtanga-Yoga, das die blinde Sängerin uns näherbringt, einiges ab. Dank präziser Anweisungen schaffen wir es am Ende, den Sonnengruß auszuführen und dabei Bewegung und Atmung in Einklang zu bringen. Es hat mir gefallen, meinen Körper einmal ganz bewusst zu spüren und ich fühle mich am Ende des Kurses voller Energie für den weiteren Tag.

Auf der Außenbühne geben gerade „Die Blinden Hühner“, ein Gesangs-Terzett aus drei blinden und sehbehinderten Frauen aus dem Erzgebirge, witzige A-capella-Songs zum Besten. Während ich im Takt mitwippe, sinniere ich darüber, was wohl beim Freundschafts-Speed-Dating auf mich zukommen wird.

Über das Speed-Dating-Konzept habe ich bislang nur gelesen: Man sitzt einem wildfremden Menschen gegenüber und hat wenige Minuten Zeit, um sich kennenzulernen und gegenseitig Fragen zu stellen. Danach wird gewechselt, der nächste Fremde sitzt einem gegenüber und das Spiel geht von vorne los. Auch wenn ich skeptisch bleibe, ob dieses Schnellverfahren der ideale Weg für die Partnersuche ist, macht es in der ­lockeren Festivalatmosphäre einen Heidenspaß. Zur Erinnerung lasse ich mich mit ­einigen der neuen Bekanntschaften vor einem Banner, das das Marburger Schloss mit Festival-Logo zeigt, fotografieren.

Auf dem Weg zum Shuttlebus, der auch den blista-Campus ansteuert, verewige ich noch eine inklusive Botschaft auf dem längsten Punktschrift-Wunschzettel der Welt. Was ich mir gewünscht habe, darf ich hier natürlich nicht verraten.

Von der Schulleitung und den Schülern der blista werden wir Besucher freundlich empfangen und über den Campus geführt. Aus den naturwissenschaftlichen Räumen hören wir das Knallen der Mitmach-Experimente, andernorts kann man sich ein Bild von der vielversprechenden Technologie des 3-D-Drucks verschaffen. Als ehemaliger Regelschüler beeindrucken mich die Einblicke in das soziale Leben auf dem Campus. Die Schüler zeigen uns ihre Wohngruppen und berichten, wie das Internatsleben vor hundert Jahren aussah.

Zurück auf dem Festivalgelände, treffe ich die Bekannten vom Speed-Dating wieder, mit denen ich mich zur Ultimativen Samstagabendshow verabredet hatte. Sie erzählen mir begeistert vom „Spiel ohne Grenzen“, bei dem am Nachmittag Teams aus blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen in lustigen Geschicklichkeitsspielen gegeneinander angetreten sind. Die besten Teams haben sich für die Abendshow qualifiziert, in der es mit Quiz- und Spielelementen aus beliebten Unterhaltungssendungen weitergeht. Dank der ausführlichen Beschreibungen des Moderators entgeht uns nichts und wir verbringen einen amüsanten Abend.

Pünktlich zum Anpfiff der heutigen Spiele der Europameisterschaft sitze ich wenig später zwischen anderen Fußballfans beim Public Viewing. Je nach Ausgang der Spiele will ich anschließend noch in die Festival-Disco gehen.

Nach einer halb durchtanzten Nacht bin ich froh, dass der Sonntag etwas ruhiger startet. Beim ökumenischen Gottesdienst in der ­Elisabethkirche lasse ich das Erlebte Revue passieren und tanke neue Kraft für meinen letzten Tag in Marburg. Bei einer Stadtführung für blinde und sehbehinderte Menschen lerne ich etwas über die Geschichte der Lahnstadt und beschließe, wiederzukommen.

Die Heimreise trete ich gemeinsam mit einem meiner neuen Bekannten an, der in dieselbe Richtung muss, und wir sind uns einig: Spätestens beim nächsten Louis Braille Festival sehen wir uns wieder!

Oskar Ente alias Sabine Richter, Redaktion „Gegenwart“