Zeitenwende – vom Leben nach der blista
Roman Qayumi, Abitur 2018
Neustadt - Marburg
„Ich muss mal fragen, ob man einen Fan des FC Bayern in Beugehaft nehmen kann“, war ein Satz, der mir im Kopf geblieben ist, als ich in der 9. Klasse ein 14-tägiges Schulpraktikum bei einem blinden Richter in Marburg absolvierte.
Zu dieser Zeit besuchte ich eine Regelschule an meinem Wohnort in Neustadt im Kreis Marburg-Biedenkopf. Mein Interesse für Jura bildete sich bei mir bereits in der Mittelstufe aus. Ein Grund hierfür war sicher, dass es in meiner Familie einige Juristen gibt und ich so bereits frühzeitig einen Einblick in dieses Tätigkeitsfeld erhielt. Während des Praktikums am Amtsgericht Marburg imponierte mir vor allem der blinde Zivilrichter, der die Aussagen von Zeugen haargenau im Anschluss nach der Vernehmung in indirekter Rede wiedergeben konnte.
Nicht zuletzt beeindruckte mich aber auch sein fundiertes juristisches Wissen, das mich zum Staunen brachte. Insofern stand für mich mein weiterer Werdegang nach dem Abitur schon relativ früh fest. Auch, weil ich durch mein Hobby Schach bemerkte, dass ich eine Stärke im analytischen Denken besaß und Zusammenhänge schnell erkennen konnte.
Als ich dann zur Oberstufe von der Realschule in Neustadt auf das Carl-Strehl-Gymnasium der blista wechselte, wählte ich den Leistungskurs PoWi, da hier unter anderem auch juristische Grundelemente vermittelt wurden. Die BOSS-Wochen in der 12. Klasse während meiner Oberstufenzeit nutzte ich für die Erkundung der Uni Marburg und den Fachbereich Jura. In diesen drei Jahren führte ich ein Pendlerdasein zwischen meinem Wohnort Neustadt und der blista in Marburg. Schule und meine Leidenschaft für Goalball führten natürlich nicht selten zu überlangen Tagen, was ich hin und wieder als anstrengend empfand.
Studium in Marburg
Marburg war als Studienort meine erste Wahl, weil ich Goalball bei der SSG-blista spielte, aber auch weil viele Freunde von mir auch in Marburg studieren wollten.
Für Marburg sprach außerdem, dass schon viele sehbeeinträchtigte Menschen vor mir an der Uni ihr Jurastudium erfolgreich absolviert hatten. Der Fachbereich Jura sowie die Universität haben bereits Erfahrungen mit sehbeeinträchtigten Studierenden und sind auf ihre speziellen Bedürfnisse eingestellt. So gibt es in Marburg beispielsweise Arbeitskabinen in den Bibliotheken, in denen man sich ungestört Texte vorlesen lassen kann. Diese Räume verfügen über einen Computer mit Sprachausgabe sowie Lesegeräte. Außerdem ist die Universität in Marburg eher klein und familiär, weswegen die Professor*innen einen schneller persönlich kennenlernen und für mich relevante Räumlichkeiten näher beieinander liegen.
Das soll aber nicht bedeuten, dass ein Studium zwangsläufig in Marburg begonnen werden soll. Im Gegenteil:
Wenn man an einer anderen Universität Vorreiter sein möchte, so kann man diesen Weg gehen und damit an einer anderen Fakultät Vorbild für andere Personen mit einem Handicap werden.
Wichtig ist allerdings, dass man dann am besten selbst schon Ideen zur Lösung von Problemen mitbringt, denen man im Studium als Sehbeeinträchtigter begegnen könnte, denn das Jurastudium ist schon für sich alleine eine große Herausforderung.
Ich habe das in meiner Regelschulzeit in Neustadt erlebt. Dort war ich der erste Schüler mit einer hochgradigen Sehbehinderung und damit der Pionier.
Anfangs waren viele skeptisch, doch nach und nach haben alle Lehrkräfte und größtenteils auch meine Mitschüler* innen gemeinsam mit mir an einem Strang gezogen, sodass ich bis zum Realschulabschluss in Neustadt bleiben konnte.
Frühe Vorbereitung auf das Studium ist essentiell
Nachdem ich also die Wahl des Studienfachs und des Studienorts getroffen hatte, beschäftigte ich mich als Nächstes damit, welche Gebäude und Wege für mich relevant sein würden. Ich selbst habe einen Sehrest von ungefähr einem Prozent und bin daher im Alltag auf einen Blindenstock angewiesen. Beim Erkunden der Vorlesungsräume hat mir die Abgangsbetreuung der blista wirklich sehr geholfen. Die Mensa, die Bibliothek und zahlreiche Räume konnte ich gemeinsam mit meinem Mobilitätstrainer erkunden und war somit gut vorbereitet.
Parallel habe ich mich mit einem Hilfsmittelanbieter getroffen und mich hinsichtlich einer passenden Ausstattung beraten lassen. Diesbezüglich ist es auch empfehlenswert, sich nach Möglichkeit mit anderen sehbeeinträchtigten Studierenden im Fachbereich auszutauschen; auch sie können wertvolle Tipps für geeignete Hilfsmittel geben. Da der Antragsprozess und das Einholen von verschiedenen Angeboten einiges an Zeit kostet, sollte man so früh wie möglich damit anfangen. Für mich waren ein Laptop inklusive Sprachausgabe und eine Braillezeile ausreichend. Außerdem kann ich auch noch QRead empfehlen.
Damit kann man PDF-Dokumente im Word-Format anzeigen lassen.
Studienbeginn – zu viel am ersten Tag
Im Oktober 2018 fing ich mein Studium in Marburg an. Gleich am ersten Tag war die Atmosphäre mit über 500 Studierenden in meiner ersten Vorlesung überwältigend. Glücklicherweise haben zwei Mitschüler von mir das Studium gemeinsam mit mir begonnen, sodass ich nicht völlig alleine war. Dennoch gab es gleich bei dieser ersten Vorlesung einen peinlichen Moment: Unser Professor ließ einen Stapel Papiere mit juristischen Sachverhalten rumgehen, währenddessen schien er etwas auf eine Folie zu schreiben und sagte dann sowas wie „Wie Sie also sehen können“ und ich habe dann laut gesagt: „Herr Professor, ich bin blind, können Sie bitte sagen, was da steht?“ Woraufhin er antwortete, dass da nichts stehen würde, und meinte die wohl noch gar nicht von ihm beschriftete Folie. Ich war natürlich völlig verwirrt und ehrlich gesagt dachte ich am ersten Tag, dass ich das Studium nicht schaffen werde. Meine Eltern mahnten mich zu Geduld und Ruhe; sie hatten recht damit.
2019 bin ich übrigens nach Marburg gezogen, weil ich näher an der juristischen Fakultät leben wollte.
Anschließend kam Covid und das Studium fand die nächsten Semester nur noch online statt.
Studienablauf – zur Ruhe kommst du selten
Im Studium selbst muss man dann bis zum fünften Semester zunächst drei kleine Scheine in den drei Rechtsgebieten Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht ablegen. In Marburg muss man dafür sowohl eine Klausur als auch eine Hausarbeit in den drei Rechtsgebieten bestehen. Für die Klausuren bekommt man je nach Grad der Sehbeeinträchtigung vom Prüfungsamt einen Nachteilsausgleich. Darüber hinaus kann man in einem gesonderten Raum mit einer Aufsicht an seinem eigenen Laptop schreiben. Schafft man diese Prüfungen nicht, wird man exmatrikuliert und kann nicht mehr an einer deutschen Universität Jura studieren.
Die Notengebung in Jura ist von 0 bis 18 Punkten. Mit vier Punkten – was einer durchschnittlichen Argumentation bzw. Arbeit entspricht – hat man bereits bestanden. Neun Punkte und mehr zählen schon zum Prädikatsexamen, sodass man als Richter oder Staatsanwalt tätig werden kann. Als Mann mit Blindheit Staatsanwalt oder Richter im Strafrecht zu werden, gestaltet sich allerdings eher schwierig, da man Beweismittel erkennen muss und blinde Menschen das nicht können.
Die Hausarbeiten schreibt man in den Semesterferien. Sowohl bei den Klausuren als auch bei den Hausarbeiten bekommt man einen Fall und muss dann eine Lösung entwickeln. Vor allem die Hausarbeitsphase ist sehr intensiv, da man Bücher, Aufsätze, Kommentare und auch sehr viele Urteile lesen muss. Teilweise ist die Arbeit dabei frustrierend, da es vorkommen kann, dass man zu seinem Problem nichts findet und man auch schon mal eine Stunde oder länger nach einer passenden Quelle suchen muss.
In jedem Fall sind vor allem die letzten Tage vor Abgabe der Hausarbeit immer stressig.
Die Urteile und ein Teil der übrigen Literatur ist digital vorhanden, jedoch ist eine Vorlesekraft für das Studium essenziell.
Die Vorlesekraft kann Literatur, die nicht digital vorhanden ist, raussuchen 2/2025 und durchgehen. Einen Antrag für eine Vorlesekraft stellt man beim Landeswohlfahrtsverband.
Beraten lassen sollte man sich dabei von der jeweiligen Schwerbehindertenvertretung. Ich empfehle, eine Person als Vorlesekraft zu wählen, die ebenfalls Jura studiert. Ich habe beispielsweise in der Einführungswoche meine Teamerin gefragt und später dann einfach mal in meine Semestergruppe geschrieben.
Hinsichtlich der Noten war ich mir übrigens nie sicher, wie ich meine Hausarbeit bzw. die Klausur einschätzen sollte.
Wenn ich manchmal das Gefühl hatte, dass ich eine völlig schlechte Klausur geschrieben habe, fiel die Note dann doch relativ gut aus und umgekehrt. Es ist teilweise etwas unberechenbar.
In den Semesterferien muss man dann noch drei einmonatige Praktika absolvieren.
Das erste Praktikum findet am Landgericht statt und die übrigen zwei Praktika kann man frei auswählen, jedoch muss ein starker juristischer Bezug gegeben sein.
Ansonsten gibt es bei Jura im Vergleich zu Medizin und Psychologie weniger Vorlesungen. Dennoch sollte man die Freizeit nicht überschätzen. Der Stoff wird immer mehr und deswegen ist eine gute Nachbereitung des Stoffs wichtig. Ich habe meist in den Vorlesungen mitgeschrieben und die Notizen im Anschluss bearbeitet. Oder man nimmt sich ein Buch zur Nachbereitung.
Hier sollte man für sich die beste Technik rausfinden. Es gab auch Fälle, wo sich Vorlesungen als eher unnötig und inhaltsarm erwiesen. In manchen Situationen kann der Griff zum Lehrbuch sinnvoller sein, als Dozent*innen zuzuhören. Zur Vertiefung des Stoffs gibt es dann noch kleine Arbeitsgemeinschaften, wo man Rechtsfälle bearbeitet und diskutiert.
Schwerpunkt und erstes Staatsexamen
Wenn man im fünften Semester die Zwischenprüfung erfolgreich hinter sich gebracht hat, kommen dann noch drei große Scheine in den drei o.g. Rechtsgebieten hinzu. Hier gab es allerdings keine zeitliche Grenze; man legt die Prüfungen dann ab, wenn man sich dazu bereit fühlt, sodass der Druck geringer wird. Ebenso gilt es jetzt, seinen juristischen Schwerpunkt auszuwählen, der 20 Prozent der Examensnote ausmacht.
Ich entschied mich für den Schwerpunkt Medizin- und Pharmarecht.
Sobald das alles geschafft ist, steht noch das Examen an. Ich habe mich mit einem kostenpflichtigen Kurs (Repetitorium) hierauf vorbereitet. Die Examensvorbereitung ist wirklich intensiv, da du in einem Jahr den gesamten juristischen Stoff wiederholst und irgendwann das Gefühl entwickelst, nicht mehr hinterherzukommen.
Teilweise lernt man zu bestimmten Themen völlig neue Sachen und wird erdrückt von der Menge des zu lernenden Stoffes. In dieser Zeit ist es völlig normal, ja unabdingbar, dass man sich vor allem auf sich fokussiert und dies auch seinem Umfeld vermittelt – das hat bei mir nicht immer optimal funktioniert.
Das Juraexamen ist absolut anspruchsvoll und man braucht unheimlich viel Kraft und Energie in dieser Zeit. Mir waren besonders meine Familie und meine Freunde sowie Goalball als eine große Hilfe. Das Examen selbst (sechs Klausuren à 7,5 h Schreibzeit) war sehr intensiv. Wenn man die Klausuren hinter sich gebracht hat, ist man wirklich erleichtert.
Resümee
Ich denke, man merkt selbst relativ schnell, ob man mit dem Studium der Rechtswissenschaften etwas anfangen kann oder nicht. Das Studium ist lang und es gibt Phasen, in denen man eigentlich auch mal Erholungspausen bräuchte, was aber nicht möglich ist, weil entweder Klausuren oder eine Hausarbeit anstehen. Wenn du aber nach und nach die Scheine hast und Schritt für Schritt weiterkommst, dann macht das dich wirklich stolz. Das Jurastudium können nicht viele bewältigen und als Person mit einem Handicap ist das nochmal etwas Besonderes. Das Examen verlangt viel von einem. Mit guter Vorbereitung und dem Willen es zu schaffen, ist es aber machbar. Im Moment warte ich auf meine Examensnoten. Zudem bin ich seit dem neunten Semester an unserem Fachbereich als Schwerbehindertenberater tätig.